Der Zauber des Engels
wirklich wissen, wer ich eigentlich war.
Als ich zurückkam, hatte Zac die Tür bereits abgeschlossen und zählte die Tageseinnahmen. Er ließ mich ein; aber offenbar sah ich ziemlich schlecht gelaunt aus, denn er machte einen großen Bogen um mich und ging wenig später nach Hause.
Missmutig stieg ich die Treppe hinauf. Heute Abend hätte ich es nicht ertragen, Dad zu sehen, auch wenn ich deswegen ein schlechtes Gewissen hatte. Eine lähmende Benommenheit machte sich in mir breit. Am Ende öffnete ich eine staubige Flasche Bordeaux, die ich im Schrank gefunden hatte, und machte es mir im Sessel am Fenster gemütlich, um ein paar Tränen zu weinen. Dann holte ich mir Laura Brownlows Tagebuch und las weiter.
12. KAPITEL
Je materialistischer die Naturwissenschaften werden, desto mehr Engel werde ich malen. Ihre Flügel sind mein Plädoyer für die Unsterblichkeit der Seele.
Sir Edward Burne-Jones
LAURAS GESCHICHTE
April 1880
An dem Dienstagmorgen, nachdem er Laura kennengelernt hatte und der kleine Arthur auf die Welt gekommen war, stattete Mr. Russell der Pfarrersfamilie einen Besuch ab. Man sagte ihm, dass der Reverend in einer dringlichen Angelegenheit unterwegs sei, Mrs. Brownlow und Laura ihn jedoch im Morgenzimmer empfangen würden. Nach einer kurzen Nacht waren beide Damen müde; Mrs. Brownlow erklärte, dass sie bei der Familie eines Pfarrangehörigen gewesen seien, der am Tag zuvor bei einem Unfall in der Gerberei ums Leben gekommen war.
Auf Russells vorsichtiges Nachfragen holte Mrs. Brownlow zwei gerahmte Fotografien von Caroline aus einer verschlossenen Schublade in ihrem Sekretär. Eins war ein Porträt aus der Zeit vor ihrer Krankheit, das andere, leider etwas verwackelte, war nur wenige Wochen vor ihrem Tod im Garten aufgenommen worden. Mr. Russell betrachtete sie einige Minuten lang, und sein Gesicht wurde ganz weich.
Mit sanfter Stimme sagte er: »Auf der ersten Fotografie ist sie ein Kind, und auf dem zweiten wirkt sie … sehr zerbrechlich, ja schon fast vergeistigt. Es ist wirklich außergewöhnlich.« Er schüttelte den Kopf, als fehlten ihm weitere Worte, dann gab er Mrs. Brownlow die Bilder zurück.
»Mein Mann hat ausdrücklich darum gebeten, dass Sie die Fenster entwerfen, Mr. Russell.« Theodora Brownlows Augen wirkten riesengroß in ihrem müden Gesicht.
Mr. Russell nickte ernst.
Laura hatte bisher nur wenig gesagt. Vorsichtig wagte sie einen Blick in seine Richtung. Seine ausdrucksvollen Hände ruhten auf den Oberschenkeln; er strahlt so viel Leichtigkeit aus, dachte sie, als gehorche sein Körper den üblichen Gesetzen der Schwerkraft nicht. Sein Rücken war gerade, der Kopf leicht nach vorne gebeugt, die Konzentration gänzlich auf Mrs. Brownlow gerichtet. Als er sich über den gestutzten Bart strich, entstand ein leicht raspelndes Geräusch, bei dem sich Lauras Nackenhaare aufrichteten.
Mrs. Brownlow setzte sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie wirkte erschöpft, und aus der Art, wie sie sich an die Schläfe fasste, schloss Laura, dass sie Kopfschmerzen bekam. Sie würde ihre Mutter wieder ins Bett schicken, sobald Mr. Russell fort war. Als sie jedoch über Caroline sprach, glühten Theodoras Augen förmlich vor Lebhaftigkeit und zeugten davon, dass tief in ihrem Innern eine Energiequelle sprudelte.
Sie fuhr fort: »Mr. Brownlow und ich haben Ihre Entwürfe für St. Aloysius gesehen.«
»Ah, die Marienfenster«, antwortete er.
»Ja. Wir haben sie bewundert, Mr. Russell. Sehr sogar. Ich nehme an, sie sind auch bei Minster Glass gefertigt?«
»Ich habe sie selbst gemacht, Mrs. Brownlow. Bei Minster Glass in der Werkstatt. Wenn Sie erlauben, schildere ich Ihnen gern, wie ich arbeite.«
Sie nickte. »Bitte.«
»Wissen Sie, ich bin davon überzeugt, dass Kunsthandwerk nur dann richtige Kunst sein kann, wenn das Werk von einer einzigen Person entworfen und gefertigt wird. Das erspart dem Künstler die Enttäuschung, dass seine Visionen und die Inspiration beim eigentlichen Schaffensprozess umgesetzt werden und verloren gehen. Ich habe mich häufig geärgert, dass ein Detail des Gesichts, ein bestimmter Farbton oder die spirituelle Energie, die ich in meine Zeichnungen gelegt habe, in der endgültigen Arbeit nicht zu erkennen waren. Daher habe ich das Handwerk selbst erlernt und fertige die Fenster eigenhändig an.«
»Tatsächlich«, antwortete Mrs. Brownlow abwesend.
Laura sah, dass die Aufmerksamkeit ihrer Mutter nur noch den Fotografien von Caroline galt, die auf ihrem
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