Der Zauber des Engels
wie Mr. Bond rechts neben ihr auf dem Stuhl herumrutschte und Mr. Russell links neben ihr in seinem Gebetbuch blätterte.
Anschließend gingen die älteren Damen leise plaudernd hinaus. Mr. Bond stand auf, nickte Laura zu und schaute zögernd zu Mr. Russell, der höflich grüßte. Laura machte die beiden Männer miteinander bekannt und erklärte den Anlass von Mr. Russells Besuch.
»Sie benötigen sicher eine Leiter«, sagte Mr. Bond. »Ich werde Mr. Perkins bitten, Ihnen eine zu bringen.« Mit einem bedeutungsvollen Blick in Lauras Richtung verabschiedete er sich. Sie lauschte auf den Nachhall seiner sich entfernenden Schritte.
Von irgendwoher rief ihr Vater. »Haben Sie die Briefe gelesen, die ich Ihnen gegeben habe, Mr. Bond?«
Bond antwortete mit seiner tiefen Stimme: »Ja. Es ist eine ernste Angelegenheit, Reverend, wirklich sehr ernst. Und nun diese Scherben überall.« Die Stimmen ebbten ab, dann schlug die Kirchentür zu.
Laura war allein mit Mr. Russell.
Er legte seinen Hut ab, nahm den Skizzenblock zur Hand, schritt durch die Kapelle und betrachtete der Reihe nach die Fenster. Das Sonnenlicht ließ seine Haut und die Haare ganz hell erscheinen und ihn wie ein ätherisches Geschöpf wirken.
»Sehen Sie, wie das Licht hier an der Südseite hereinfällt?«, fragte er. »Es ist weniger direktes Sonnenlicht, sondern eher ein tiefes Glühen. Das wesentlich hellere Licht wird durch das östliche Fenster mit dem Jungfrau-mit-Kind-Motiv kommen. Der Engel wird weicher erscheinen. Ich stelle mir vor, wie das Licht in weiß-goldenen Tönen auf sein Gesicht fällt, was meinen Sie? Hier unten sollen dunklere, geheimnisvollere Farben vorherrschen – Rubinrot vielleicht und Smaragdgrün.«
Laura nickte stumm und sah das Bild genau vor sich.
Im nächsten Augenblick erschien Mr. Perkins mit der Leiter, dann kehrte auch ihr Vater zurück. Er wirkte irgendwie abwesend. »Mr. Bond holt gerade einen Constable. Und ich … nun … ich muss mich einer anderen dringlichen Angelegenheit widmen. Verzeihen Sie bitte, Mr. Russell, aber ich bin augenblicklich nicht in der Lage, mit Ihnen zu sprechen. Falls Sie irgendwelche Fragen haben, möchte ich Sie bitten, mich im Laufe des Vormittags im Pfarrhaus aufzusuchen.«
»Vater«, sagte Laura. »Wenn es dir eine Hilfe ist, kann ich gerne bei Mr. Russell bleiben, solange er Maß nimmt.«
»Wie du meinst, meine Liebe. Mr. Russell und ich wären dir sicher sehr dankbar. Aber ich muss jetzt los.«
Laura hielt ein Ende des Maßbandes und notierte Zahlen, während Mr. Perkins die Leiter stützte. Als sie fertig waren, verschwand der Küster mit der Leiter.
Russell setzte sich, um mit seinen merkwürdig verkrampften Handbewegungen ein paar rasche Skizzen anzufertigen.
»Entstammen Sie einer Künstlerfamilie, Mr. Russell?«, fragte Laura.
»Nein, ganz und gar nicht. Mein Vater war ein reisender Baptisten-Pfarrer. Er ist vor Kurzem wegen gesundheitlicher Probleme in den Ruhestand getreten.«
»Sie sind ein Baptist?« Laura fragte sich, was ihr Vater dazu sagen würde, wenn er erfuhr, dass seine Kirchenfenster ausgerechnet von einem Andersgläubigen entworfen wurden.
»Kurz vor meiner Eheschließung wurde ich in die Kirche von England aufgenommen«, sagte er. Als schien er ihre Gedanken zu erraten, fügte er hinzu: »Nein, nicht nur wegen Marie. Die anglikanischen Anbetungsriten faszinierten mich schon immer, und es ist mir eine große Ehre, mit meiner Arbeit ein wenig zu dieser Schönheit beitragen zu können. Wissen Sie, dass die frühen christlichen Mystiker geglaubt haben, das Licht Gottes würde durch sämtliche Reihen der Engel in alle Kreaturen und als optisches Licht in Gemmen und Edelsteine dringen? Überlegen Sie mal, was das bedeutet: dass das Licht, das farbiges Glas durchdringt, von den Engeln des Allerheiligsten und somit letztlich direkt von Gott kommt.«
»Glauben die Baptisten denn nicht an Engel?«, fragte Laura erstaunt. Die Sonne war hinter einer Wolke verschwunden, und sie zog sich den Schal enger um die Schultern, weil sie plötzlich fröstelte.
»Doch, natürlich. Sie sind die Boten Gottes. Die Bibel ist voller … Sagen Sie, Miss Brownlow, machen Sie sich etwa über mich lustig?«
»Nein, nein, keineswegs, es ist mir vollkommen ernst. Es ist nur so ungewöhnlich, dass Sie Ihre Religionszugehörigkeit von der Schönheit ihrer Darstellungsformen abhängig machen. Somit würde ja Ihr Glaube allein auf der Macht der Verführung gründen.«
»Oh nein. Meine
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