Der Zauber des Engels
jemand in meiner Nähe flüsterte: »Er nimmt das alles ein bisschen zu ernst, oder?«
Jo überredete mich, noch mit in den Pub zu gehen. Wieder stellte sich heraus, dass das die richtige Entscheidung war, denn alle waren fest entschlossen, sich nach der anstrengenden Probe zu amüsieren. Irgendwann lachte ich über eine der vielen Anekdoten von Dominic, bis mir die Tränen über die Wangen rollten.
Er arbeitete im Innenministerium, und ohne etwas preiszugeben, das ihn in Schwierigkeiten bringen könnte, erzählte er herrliche Geschichten über persönliche Begegnungen mit dem einen oder anderen bekannten Politiker. Dabei fiel mir auf, wie häufig er Jo anschaute. Sie lächelte zurück. Aber ansonsten schien sie es nicht zu bemerken.
Ben saß an seinem üblichen Platz an der Theke, trank ein Bier und unterhielt sich mit einem der Tenöre, einem großen schlanken Mann in einem eng geschnittenen dunklen Anzug. Er war ungefähr in Bens Alter, hatte kurzes, an den Schläfen bereits silbriges schwarzes Haar und ein lebhaftes, intelligent wirkendes Gesicht.
»Kennst du Michael schon?«, fragte Ben, nachdem ich eine Runde Drinks bestellt und an Dominic weitergereicht hatte.
»Nein. Hallo.« Wir schüttelten uns die Hände.
»Michael ist Mitglied des Chorausschusses«, erklärte Ben. »Im wahren Leben ist er Beamter.«
»Tja, hier in Westminster begegnet man uns an jeder Ecke.« Michael lächelte. Er strahlte etwas Großstädtisches aus, aber der harte Zug um seinen Mund ließ darauf schließen, dass er in Wahrheit sehr sensibel war.
»Außenministerium«, fügte Ben hinzu. »Sieht man gleich, oder? Michael ist mit mir zur Schule gegangen. Er kennt also meine strengsten Geheimnisse. Wo die Leichen im Keller liegen, was, Michael?« Er frotzelte in einer Weise mit ihm, die mir irgendwie unangenehm war. Ich hatte das Gefühl, dass sich hinter der Neckerei etwas Tieferes, Dunkleres verbarg.
»Früher habe ich die Schulferien regelmäßig bei Bens Eltern verbracht«, erklärte Michael. »Meine eigenen Eltern waren viel im Ausland, müssen Sie wissen, und Bens großherzige Mutter hatte Mitleid mit mir und hat mich daher oft eingeladen. Seine Familie besaß dieses wunderbar große Haus in Herefordshire. Voll mit Antiquitäten und Bildern. Ich kam mir immer vor wie Charles Ryder zu Besuch in Brideshead.« Seine Stimme klang leicht spöttisch.
Ben brach in Gelächter aus. »Er übertreibt maßlos«, sagte er. »Leider mussten meine Eltern das Haus am Ende verkaufen. Wir hatten immer Geldprobleme. Mein Großvater musste die Schulgebühren regelrecht zusammenkratzen.«
Ich fand Michael nicht so besonders sympathisch. Er war nett, aber aus irgendeinem Grund verbittert, und ich verstand nicht, wieso er Ben unbedingt als verwöhntes reiches Kind darstellen wollte. Das erschien mir unhöflich, zumal Michael von der Gastfreundschaft seiner Familie profitiert hatte. Ich fragte mich, welche Geschichte sich wohl in Wahrheit hinter allem verbarg.
»Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen, aber ich muss jetzt wieder zurück zu meiner Freundin«, sagte ich schließlich und ließ die Männer allein.
Gegen halb elf war ich müde und verabschiedete mich. Ich versprach Jo, mich am Mittwoch mit ihr zu treffen, um mit ihr etwas trinken zu gehen. Zu meiner Überraschung brach Ben mit mir zusammen auf. Von Michael war weit und breit nichts zu sehen.
»Ist er deinetwegen in den Chor eingetreten?«, fragte ich, als wir zum Greycoat Square zurückschlenderten.
»Nein, er war schon länger Mitglied«, antwortete Ben. »Michael hat mich damals als Nachfolger vorgeschlagen, nachdem der vorherige Organist gekündigt hatte.«
Das verstand ich nicht. Wenn Michael eifersüchtig auf Ben war, warum hatte er sich dann so für ihn eingesetzt? Aber ich kannte Ben nicht gut genug, um diese Frage laut auszusprechen. Außerdem wechselte er gerade das Thema.
»Wie hat dir die Probe heute Abend gefallen?«
»Gut«, antwortete ich ausweichend, »obwohl wir noch ziemlich am Anfang stehen.«
»Kann man wohl sagen«, brummte er. »Leider haben wir längst nicht so viel geschafft, wie ich mir vorgenommen hatte. Heute war erst die zweite Probe, und schon liegen wir hinter dem Zeitplan.«
»Das holen wir bestimmt wieder auf«, antwortete ich beruhigend.
Als wie uns schließlich trennten, meinte Ben: »Wie ist es, hast du am Freitag vielleicht Zeit? Ich habe Karten für ein Konzert am St. John’s Smith Square. Die Fantastische Symphonie von Berlioz. Und eine
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