Der Zauber des Engels
herumgeschleppt, hatte Angst gehabt, er würde die Sache runterspielen, wenn ich es ihm sagte. Aber Eltern hatten auch Geheimnisse, wie ich nur allzu gut wusste; und Dinge, die sie für gering erachteten, konnten gigantische Ausmaße annehmen. Mrs. Pryde hatte uns anvertraut, sie wisse genau, warum ein ruhiges, fleißiges Mädchen namens Kathy nach den Sommerferien nicht mehr in die Schule gekommen war, aber »Es wäre nicht fair gegenüber ihrer Mutter, das herumzuerzählen« war alles, was sie preisgab, als Jo sie bat, uns Genaueres zu erklären.
»Wie war das damals noch mit dieser Kathy-Maybury-Geschichte?«, fragte ich Jo, die mich bei dem plötzlichen Themenwechsel verständlicherweise verwirrt anschaute. »Weißt du noch, wir waren damals sicher, dass sie schwanger sein müsste oder in irgendeine Drogengeschichte oder einen Mord verwickelt sein könnte.«
»Ja, Kathy. Es war albern, wie geheimnisvoll damals alle taten. Heute klingt das alles so normal. Das arme Mädchen hatte einfach nur zu viel gearbeitet und war davon krank geworden. Alle dachten, etwas Schreckliches wäre passiert, ein Nervenzusammenbruch oder so etwas. Aber das galt als Versagen. Dabei hat sie nur nach den Sommerferien die Schule gewechselt, und Mom hat gehört, dass es ihr am Ende richtig gut gegangen ist.«
Der Ausdruck »krank vor Trauer« kam mir in den Sinn. Er stammte aus Laura Brownlows Tagebuch, Laura hatte ihn im Zusammenhang mit ihrer Mutter benutzt. »Hab ich dir eigentlich schon von dem Tagebuch erzählt, das ich gefunden habe?«, fragte ich Jo. Sie schüttelte den Kopf und schob ihren noch halb vollen Teller von sich. Ich erklärte es ihr. »Lauras Mutter, Theodora, hat zwei Kinder durch Krankheiten verloren. Dabei ist irgendwas in ihr zerbrochen, aber damals wusste niemand, wie man damit umgehen sollte.«
»Es muss schrecklich gewesen sein«, antwortete Jo, den Blick voller Mitgefühl. »Aber damals dachten die Leute, es sei Gottes Wille, wenn sie ein Kind verloren.«
»Das klingt heute unvorstellbar, oder? Aber wie hätten sie auch sonst damit fertigwerden sollen? Schließlich gab es damals für die meisten Kinderkrankheiten keine Heilung. Der Glaube hat auch Lauras Eltern am Leben gehalten. Denk nur an all die Grabsteine von Kindern mit den Worten ›friedlich eingeschlafen‹ oder von Statuen mit Kindern, die in den Armen von Engeln ruhen. Uns erscheint das heute sentimental, aber es hat den Eltern geholfen, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen.«
Plötzlich drang von der kleinen Gruppe in der Grünanlage ein Schrei herauf. Eins der kleinen Mädchen war gestürzt und lag weinend am Boden. Eine der Frauen hob sie auf und wiegte sie in den Armen, als sei sie das Kostbarste auf der Welt. Jo zog ein besorgtes Gesicht. Dann blickte sie auf ihre Armbanduhr. »Wir haben noch eine Stunde«, sagte sie, und dann begann sie mit völlig unnötiger Eile, die Teller abzuräumen.
Auf ihre Bitte machte ich uns eine Kanne Tee. »Hast du schon für die Chorprobe morgen geübt?«, fragte ich sie. »Ben wird bestimmt schimpfen. Er hat sich beklagt, dass die Leute sich nicht genügend vorbereiten.«
»Ich hatte keine Zeit«, antwortete sie trotzig. »Außerdem haben wir kein Klavier, so wie du. Vielleicht hätte ich eins der Bänder bestellen sollen, die Val angeboten hat, aber mir war ehrlich gesagt nicht klar, dass das alles so ernst genommen wird.«
»War der letzte Chorleiter auch so?«, fragte ich.
»Nein, der war viel lockerer. Wir hatten gedacht, Ben wäre ihm ähnlich. Er hat im Juni eine Probestunde mit uns gemacht, damals wirkte er sehr entspannt.«
»Und jetzt nimmt er die Sache auf einmal viel ernster?«
»Ja, er ist definitiv ehrgeiziger, als wir geglaubt haben. Das Problem ist, dass eine Menge Leute nur aus Spaß am Singen kommen. Die meisten von uns sind keine Musiker, und wir haben keine Lust, unsere Freizeit mit Üben zu verbringen. Es käme bestimmt nicht gut an, wenn Ben zu streng würde. Wenn er so weitermacht, werde ich jedenfalls schnell die Lust verlieren.«
»Das wäre schade«, antwortete ich. »Dominic würde dich sicher vermissen.«
»Sei nicht albern.«
»Wieso? Er lässt dich doch keine Sekunde aus den Augen.«
»Unsinn, er ist nur nett. Er hat niemals die leiseste Andeutung gemacht, dass …«
»Vertrau mir, ich merke so etwas. Nicht bei mir selbst, leider, aber bei anderen.«
Jo lächelte traurig und begann an ihrem Daumennagel zu fummeln. »Er ist wirklich ein sehr netter Mann. Aber ich glaube,
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