Der Zauber des Engels
damit heraus, dass sie schwanger sei. Ich war entsetzt, denn das war nicht geplant gewesen. Aber als ich mich an den Gedanken gewöhnt hatte, freute ich mich. Ich dachte, es würde bedeuten, dass Shona und ich zusammenblieben. Aber es kam anders.«
»Wollte sie das Baby denn überhaupt haben?«
»Ja. Ihr Dad hatte einen zweiten Herzanfall gehabt, und sie überlegte, nach Australien zurückzugehen. Das Baby nahm ihr die Entscheidung ab. Am Ende kann man also sagen, dass Olivia uns nicht zusammengeschweißt, sondern auseinandergerissen hat. Shona verließ mich, als Olivia drei Monate alt war. Ich hatte einen Job in einem Supermarkt gefunden, und als ich eines Tages von der Arbeit nach Hause kam, war sie weg.«
Ich war entsetzt. »Ohne dir vorher etwas zu sagen?«
»Sie hat mir einen Brief mit ihrer Adresse in Melbourne hinterlassen, wollte aber nicht, dass ich ihr folgte. Sie habe nicht gewagt, mir das ins Gesicht zu sagen, schrieb sie, weil sie das zu sehr aufwühlen würde. Sie würde das zu sehr aufwühlen!« Er ballte die Hand zur Faust, und ich sah noch heute, zwölf Jahre später, dass der Schmerz dieses Tages ihn nie losgelassen hatte.
»Was um alles in der Welt hast du dann gemacht?«, flüsterte ich. »Ich glaube, ich wäre verrückt geworden.«
»Es hätte nicht viel gefehlt. An die nächsten Monate habe ich nur noch flüchtige Erinnerungen. Ich habe sie so unendlich vermisst, Fran. Beide, Shona und Olivia. Und dann verdiente ich nicht genug, um die Miete zu zahlen. Bekam Probleme mit meinem Vermieter.«
»Warum bist du nicht nach Glasgow zurückgegangen?«
»Das hätte ich fast getan, aber Mom war inzwischen tot. Sie starb ein paar Monate vor Olivias Geburt. Ich wusste, dass Dad mich nicht bei sich wohnen haben wollte, ich hatte ihn seit der Beerdigung auch nicht mehr gesehen. Meine alte Stelle in Glasgow war längst besetzt, und es wäre für mich ein Eingeständnis des Versagens gewesen, zurückzugehen.«
Er hielt kurz inne. »Wenn ich heute zurückblicke, ist mir klar, dass ich unendlich getrauert habe – um Mom und um Shona und Olivia. Daher konnte ich mich auf nichts anderes konzentrieren. Ich machte Fehler an der Kasse im Supermarkt, dann ging ich irgendwann gar nicht mehr hin. Schließlich hat mich mein Vermieter auf die Straße gesetzt. Ich hatte praktisch nichts mehr, und in der Nacht habe ich in einem Heim der Heilsarmee geschlafen. Am nächsten Morgen beschloss ich, London noch eine Woche zu geben, dann würde ich Dad anrufen und ihn bitten, mir Geld für die Heimfahrt zu schicken. Am Tag darauf sah ich die Anzeige an der Tür von Minster Glass . Dein Vater hat mir auf der Stelle den Job gegeben.«
»Das ist unglaublich«, sagte ich nachdenklich. Kein Wunder, dass er Dad gegenüber so loyal war.
»Er ließ mich eine Weile bei sich wohnen, aber ich merkte, dass er nicht gern einen Untermieter hatte. Eine Kundin bekam irgendwann mit, dass ich eine Bleibe suchte. Sie hatte eine Freundin in Lambeth, die eine Untermieterin suchte, weil sie für einige Zeit nach Spanien gehen wollte. Ich griff zu. Die Gegend ist ein bisschen heruntergekommen, aber die Wohnung passt großartig zu mir.«
»Hast du Shona und Olivia denn seither nie mehr gesehen?«
»Nein«, antwortete er leise. »Ich schrieb Shona, um ihr meine neue Adresse mitzuteilen, und ein paar Wochen später bekam ich einen langen Brief, in dem all die Dinge standen, die sie mir eigentlich hätte persönlich sagen sollen. Dass es ihr leidtäte, aber dass sie wisse, dass es zwischen uns nicht mehr funktionieren würde und sie deshalb keinen Sinn sähe, wenn wir uns noch einmal träfen. Die letzte Operation ihres Dads sei erfolgreich gewesen, aber er sei immer noch sehr schwach. Sie würden in Melbourne bleiben, und sie betonte noch einmal, dass ich sie nicht besuchen solle. Und dann habe ich noch ein einziges Mal etwas von ihr gehört, als Olivia ein Jahr alt wurde. Damals hat Shona mir das Foto geschickt.«
Er zog es erneut aus seiner Brieftasche, und wir schauten es uns zusammen an. »Shona schrieb, Olivia sähe genauso aus wie sie in dem Alter. Von mir war keine Rede.« Er klang bitter.
Ich betrachtete den kleinen verlorenen Engel. Natürlich würde Olivia heute nicht mehr so aussehen – schließlich waren elf Jahre vergangen –, aber trotzdem war es, als würde das Foto dieses süßen kleinen Mädchens einen Hauch von Ewigkeit ausstrahlen. Einen Verlust. Die verblichene Farbe des Bildes rückte sie in noch weitere Ferne … wie
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