Der Zauber des Engels
eines jener Kinder, die uns auf der Erde verloren gehen und niemals erwachsen werden dürfen, aber irgendwo in der Schwebe unserer Einbildung existieren, ohne für uns erreichbar zu sein.
Als ich das Bild an Zac zurückgab, war sein Gesicht völlig reglos.
»Hast du nie versucht, sie wiederzusehen?«
»Nein. Ich war ja völlig pleite. Andererseits hätte ich das Geld sicher irgendwo hergekriegt, wenn Shona mich nicht so entschlossen gebeten hätte, sie nicht zu besuchen. Lange Zeit plagte mich der Albtraum, ich würde plötzlich wie ein Wahnsinniger vor ihrer Tür stehen und ihre Familie würde mich verjagen. Aber ich habe auch meinen Stolz.«
»Dein Stolz sollte dich nicht abhalten, deine Tochter zu sehen, Zac«, sagte ich ernst.
Er überlegte kurz. »Vielleicht hast du recht. Aber es fällt mir schwer, irgendwo aufzutauchen, wo ich nicht erwünscht bin. Shona könnte inzwischen wieder verheiratet sein, und dann würde es richtig unangenehm, wenn ich auch noch einem anderen Kerl in die Augen schauen müsste.«
»Zac, sag mal … liebst du sie eigentlich noch?«
Er schüttelte den Kopf. »Allerdings weiß ich nicht, wie es wäre, wenn ich sie noch einmal sähe. Aber diese Gefahr besteht ja nicht, da ich nicht mal weiß, wo sie sich aufhalten.«
»Es muss doch möglich sein, das herauszufinden.« Ich war wütend. Warum war es ihm denn nicht erlaubt, seine Tochter zu sehen? »Hast du denn nie an Shona geschrieben und verlangt, Olivia zu sehen? Du hast doch sicher ein Recht darauf.«
»Ich glaube nicht. Außerdem ist es so einfacher für alle.« Er klang resigniert, und das machte mich traurig. Als er sein Bier austrank, sah ich, dass seine starken Finger vernarbt und die Nägel ganz kurz geschnitten waren. Und dennoch hatte ich erlebt, wie er mit zerbrechlichen Scheiben funkelnden Glases umgegangen war und zarte Details von Lippen, Augen und Blütenblättern gezeichnet hatte, und konnte mir gut vorstellen, wie er die Hand eines kleinen Kindes hielt.
18. KAPITEL
Da hatte er einen Traum. Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder.
Genesis 28,12
In dieser Nacht schlief ich unruhig, immer wieder verfolgten mich Träume von einem verloren gegangenen Kind. Ich kann mich zwar noch an die ersten trostlosen Streifen Helligkeit am Nachthimmel erinnern, dann als Nächstes aber erst wieder an das Telefonklingeln, das mich aus dem Tiefschlaf riss. Ich blinzelte in strahlendes Sonnenlicht und stellte entsetzt fest, dass es schon zehn Uhr war.
»Es tut mir unendlich leid, aber ich muss für Mittwoch absagen«, sagte Jo, als ich ranging. »Hast du vielleicht heute Zeit? Eigentlich war mein ganzes Wochenende verplant, aber meine Verabredung ist geplatzt. Ich habe schon bei Mom angerufen und gefragt, ob ich zum Essen kommen kann, aber sie sagte, es ginge nicht, weil sie unterwegs seien.«
Ich musste über Jos Empörung lachen. Ich hatte vage vorgehabt, den Sonntag damit zu verbringen, weiter in den Papieren zu suchen und dann später ins Krankenhaus zu gehen. Doch zu meiner eigenen Verwunderung hörte ich mich sagen: »Seit Jahren war ich nicht mehr in der Tate Gallery. Hättest du Lust hinzugehen?« Auf einmal sehnte ich mich danach, mein Lieblingsbild König Kophetua wiederzusehen.
»Großartige Idee!«, rief sie. »Wie war’s eigentlich am Freitag mit Ben?«
»Interessant«, antwortete ich und erzählte ihr, dass wir anschließend noch bei ihm zu Hause gewesen waren. »Es waren noch zwei andere dabei, Michael aus dem Chor und eine Geigenspielerin namens Nina.«
»Und? Magst du Ben?«, forschte sie.
»Ja«, antwortete ich und fügte mit fester Stimme hinzu: »Aber er ist nur ein Freund.«
In der Tate-Galerie stellte ich erleichtert fest, dass König Kophetua noch an der ursprünglichen Stelle hing. Ich wäre empört gewesen, wenn das Bild ausgerechnet heute für eine Ausstellung verliehen gewesen wäre. Wir betrachteten BurneJones’ hübsches stolzes Bettlermädchen und den König, der ihr bewundernd, aber unbeachtet zu Füßen lag, und ich fragte mich zum hundertsten Mal, wieso mein Vater damals nicht wollte, dass das Poster in meinem Zimmer hing.
Jo interessierte sich mehr für The Golden Stairs , ein rätselhaftes Gemälde mit achtzehn hübschen jungen Frauen, die eine goldene Treppe hinunterstiegen. »Sie sehen aus wie verzauberte Feen aus einem Traum«, sagte sie seufzend.
»Burne-Jones hat nur ein einziges Modell für sämtliche
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