Der Zauber des Engels
Dann machte Lisa langsam einen letzten Zug und warf die Kippe in eine Coladose. Anschließend ging sie in Richtung Treppe, alle Blicke folgten ihr. Keiner sagte ein Wort.
»Tja«, sagte Jo allgemein in die Runde, und die Spannung legte sich etwas.
»Hast du heute Abend Dienst?«, fragte eins der anderen Mädchen, eine dicke, unglücklich aussehende Blondine, die stark geschminkt war, um ihre schlimme Akne zu überdecken, was ihr jedoch nicht gelang.
»Stimmt genau, Cassie.« Jo blickte sich um. »Weiß jemand, wo Amber steckt? Fran … besser gesagt, ihrem Dad, gehört der Laden, in dem Amber arbeitet.«
Die Mädchen schauten mich mit größerem Interesse an. Nach einer Weile sagte Cassie: »Sie hat sich mit Lisa gestritten. Danach ist Amber wütend weggerannt, keine Ahnung, wohin.«
»Ah ja?« Jo sah sie an. »Worüber haben sie sich denn diesmal gestritten?«
»Ach, das Übliche. Lisa hat Amber beschimpft, und Amber hat angefangen zu heulen. Sie ist ein echtes Baby.«
»Oh Cassie …«, begann Jo.
»Sie müsste endlich lernen, sich zu wehren«, meinte ein dünnes Mädchen, das seine Haarspitzen auf Spliss untersuchte. »Lisa ist einfach nur genervt, dass Amber sich alles gefallen lässt.«
Jo und ich gingen weiter durch die Eingangshalle. »Leider beschränkt sich das nicht auf böse Worte«, flüsterte Jo mir zu. »Lisa kann ziemlich gemein sein, und viele hier haben Angst vor ihr und kuschen, wenn sie etwas befiehlt. Aber es sind keine schlechten Mädchen, und im Großen und Ganzen kommen wir zurecht.«
Ich umarmte Jo zum Abschied und machte mich auf den Weg zu meinem Vater.
Heute trug Dad keine Sauerstoffmaske, und eine Krankenschwester sagte mir, dass seine Atmung viel stabiler geworden sei. Er lag gegen einen Stapel Kissen gelehnt und sah mich mit ängstlichem Blick an. Dann öffnete er den Mund. Ich dachte, er würde versuchen zu sprechen, aber es wurde nur ein Gähnen daraus.
»Ich habe dir doch von Amber erzählt, oder?«, fragte ich ihn. »Das ist das Mädchen, das uns seit einiger Zeit im Laden hilft. Sie lebt im Heim. Heute Nachmittag habe ich es mir mal angesehen, es ist ganz anders, als man es erwartet.« Ich setzte mich. »Es war eine gute Idee von Jo, Amber einzustellen. Sie hat ein gutes Gespür für die Arbeit mit Glas. Sie hilft Zac sogar bei den Entwürfen. Er erledigt alle schwierigen Arbeiten, aber sie hilft ihm schon, das passende Glas auszusuchen.«
Konnte es tatsächlich sein, dass Dads Augen interessiert aufgeblitzt hatten? Oder bildete ich es mir nur ein? Was immer es war, es motivierte mich, weiterzureden. »Amber ist eine echte Erleichterung für unseren Alltag. Wir sind viel flexibler geworden. Und die Kunden mögen sie auch.«
Dann fiel mir ein, was Zac mir über Olivia anvertraut hatte. »Ich habe von Zac erfahren, warum du ihn damals eingestellt hast«, sagte ich zu Dad. »Davon hast du mir nie etwas gesagt. Ich finde es toll, wie du ihm geholfen hast.«
Ich wartete, als ob ich mit einer Antwort rechnete. Was hätte er denn gesagt? »Er war genau der Richtige für den Job.« Oder: »Na ja, das war ja auch vernünftig.« Irgendeinen knappen Satz, eine Behauptung, die für große Gefühle keinen Raum ließ.
Am frühen Abend rief Ben an.
Mit dem Telefon am Ohr ging ich zum Wohnzimmerfenster und schaute über den Platz, ob ich ihn sehen konnte. Aber das Abendlicht spiegelte sich in den Scheiben seiner Wohnung.
»Kommst du morgen zum Chor?«, fragte er.
»Keine zehn Pferde könnten mich davon abhalten«, witzelte ich.
»Prima. Ich wollte dich um deinen Rat als Musikerin bitten. Was hältst du von Stimmübungen?«
»Stimmübungen?«
»Ja, für den Chor. Atemübungen, Entspannungsübungen, Tonleitern, all so was. Ich dachte, wir könnten die erste halbe Stunde der Chorprobe damit verbringen.«
»Hm.« Ich überlegte, ob Jo sich darüber freuen würde.
»Es würde den Chor sehr weiterbringen.«
»Wieso fragst du mich? Ich bin neu. Ich kenne doch kaum jemanden.«
»Genau deshalb frage ich dich ja. Du bist objektiv. Und wie gesagt, du bist auch Musikerin.«
»Okay. Also, ehrlich gesagt, ich würde es nicht übertreiben. Ein paar Minuten gehen bestimmt in Ordnung, aber alles, was darüber hinausgeht, würden viele als harte Arbeit empfinden. Und auch als ein bisschen langweilig. Eine halbe Stunde wäre viel zu lang.«
Ben atmete hörbar ein: »Das denkt Michael auch. Wahrscheinlich habt ihr beide recht. Okay, dann versuchen wir es mit zehn Minuten.« Mit sanfter
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