Der Zauber des Engels
du irrst dich. Außerdem bin ich nicht interessiert.«
Ich dachte an Dominic. Er war einer dieser auf Anhieb sympathischen Menschen, die vor Aufrichtigkeit und Gutherzigkeit nur so strotzten. Außerdem sah er noch gut aus. Nicht im klassischen Sinne schön oder, das fiel mir erst jetzt auf, sexy wie Ben. Vor allem war ihm, anders als Ben, nicht klar, wie attraktiv er war; er war einfach nur ein Mensch, den man auf Anhieb mochte, eine liebenswerte Person, die wunderbar zu Jo passen würde.
»Wieso bist du denn nicht interessiert?«, fragte ich Jo, merkte aber sofort, dass ich zu weit gegangen war.
Sie riss den losen Nagel ab. Blut sickerte heraus. »Na ja, wer weiß schon, warum man sich zu manchen Leuten hingezogen fühlt und zu anderen nicht. Ich kann das nicht erklären.«
»Verzeihung«, sagte ich, aber anstatt sich umständlich zu entschuldigen, wie sie es sonst tat, wenn sie das Gefühl hatte, jemanden irritiert zu haben, saugte sie nur an ihrem Daumen und goss mit abwesender Miene Tee ein.
Geräuschvoll stellte sie die Tasse vor mich hin. »Wie macht Amber sich?«, fragte sie und setzte sich.
»Super«, antwortete ich. »Sie hat Zac längst um den Finger gewickelt, er ist völlig begeistert von ihren Fortschritten. Sie hat zwei Entwürfe für Kinderzimmerfenster gemacht, die wunderschön geworden sind.«
»Das freut mich.« Jetzt war sie wieder die alte, unbeschwerte Jo mit den funkelnden Augen. »Ich merke, dass sie sich verändert. Ich glaube zwar nicht, dass die Arbeit ihr das Leben im Heim unbedingt erleichtert, aber sie kommt besser damit klar. Gestern ist sie losgezogen, um sich neue Klamotten zu kaufen. Ich bin gespannt, was sie mitgebracht hat.«
»Bei dem Gehalt, das ich ihr zahlen kann, kann es nicht viel sein«, antwortete ich. »Muss sie von ihrem Geld im Heim etwas abgeben?«
»Nur ganz wenig«, antwortete Jo. »Sag mal, hast du das Heim eigentlich schon gesehen? Wenn du Zeit hast, kannst du ja noch kurz mitkommen, ehe du deinen Vater besuchst.«
»Gern.«
In dem Moment, als wir die Wohnung verlassen wollten, klingelte das Telefon. Jo ging ran. »Mom«, sagte sie, und ein genervter Ausdruck huschte über ihr Gesicht, »alles ist bestens, wirklich. Fran ist hier, aber wir wollen gerade gehen. Ich muss noch arbeiten.«
Sie legte den Hörer auf. »Sie hat von der Party aus angerufen, auf der sie sind, weil sie Angst hatte, ich würde allein hier rumsitzen. Ehrlich!«
Ich dachte daran, wie sehr es Jo vorhin empört hatte, dass ihre Eltern ein eigenes Leben führten, und verkniff mir jeden Kommentar.
An die Stelle des düsteren Gebäudes aus den 1930er-Jahren, das ich aus meiner Kindheit kannte, war ein helles, freundliches Haus getreten. Das St. Martin’s Heim für Frauen war heute eine zeitgemäße, moderne Einrichtung. Aus irgendeinem Grund hatte ich mir kahle, eintönige Schlafsäle vorgestellt; umso überraschter war ich, als ich in farbenfroh eingerichtete Einzelzimmer schaute, zu denen oft ein eigenes Bad gehörte. Im Erdgeschoss gab es eine Küche und eine Cafeteria, die zu bestimmten Stunden geöffnet war, und in einem großen Wohnraum plärrte in der Ecke der unvermeidliche Fernseher.
»Das ist ja richtig schön!«, sagte ich zu Jo.
»Es ist nur ein zeitweiliges Zuhause«, nickte sie, »hier wohnen die jungen Frauen, bis sie eine Ausbildung absolviert haben und ihren Weg allein weitergehen können. Wir können ungefähr dreißig aufnehmen; wie du dir vorstellen kannst, gibt es eine Warteliste. Aber wer gegen die Regeln verstößt, ist sofort draußen. Wie akzeptieren weder Trunkenheit noch Drogen oder Gewalt. Nichts dergleichen.«
Da Sonntagnachmittag war, waren nicht viele Leute zu sehen. Nur eine kleine Gruppe Mädchen hockte in einer Ecke der Cafeteria und trank irgendwelche sprudelnden Getränke aus dem Automaten. Eine von ihnen, bekleidet mit einem T-Shirt und einer Hose, die aussah wie eine Schlafanzughose, lehnte an der weißen Wand und rauchte eine Zigarette. Sie hatte ein hübsches, blasses Gesicht, aber harte Züge um den Mund und dunkle Schatten unter den Augen. Ihre Lippen waren grell geschminkt. Der Blick, mit dem sie mich und Jo bedachte, war so verächtlich, dass es schmerzte.
Die anderen Mädchen hingen herum und schauten nur kurz auf, als Jo Hallo sagte.
»Das ist meine Freundin Fran. Ich führe sie ein bisschen rum. Lisa, du weißt, dass du hier drinnen nicht rauchen darfst. Geh bitte raus.«
Eine unangenehme Stille entstand, die endlos zu dauern schien.
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