Der Zauber eines fruehen Morgens
Brüder dem Neuseelandkorps angehörten, waren es Tage der Angst.
Belle hätte sich darüber freuen sollen, nach Hause zu dürfen, doch ihr graute davor. Sie hatte hier zwar wirklich geschuftet, aber sie hatte völlige Freiheit von all den lästigen kleinen Einschränkungen und Benimmregeln genossen, die daheim einen Großteil ihres Lebens bestimmten. Die männlichen Fahrer behandelten sie wie ihresgleichen, ihre Röcke waren der Zweckmäßigkeit halber kürzer geworden, sie konnte ganz sie selbst sein, ohne von anderen verurteilt zu werden. Außerdem half sie gern in den Krankenstationen aus, wo sie das Gefühl hatte, gebraucht und geschätzt zu werden.
Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit sie und Mog nach Blackheath gezogen waren und ihre Tage damit verbracht hatten, die Bürger der Mittelschicht genau zu beobachten und sich ihr Benehmen und ihre Sprechweise anzueignen, um sich problemlos einzufügen. Jetzt schien das alles ebenso sinnlos wie dieser Krieg. Alles,was sie erreicht hatten, war, auf der gesellschaftlichen Leiter eine Stufe höher zu steigen, nur um von versnobten, engstirnigen Leuten, die nicht über die Grenzen ihres privilegierten Lebens hinaussahen, wieder heruntergestoßen zu werden.
Trotzdem war Belle stolz, dass sie ihren Traum, einen eigenen Hutsalon zu eröffnen, verwirklicht hatte. Wenn sie auf jene Zeit zurückblickte, auf ihre glückliche Ehe mit Jimmy, erschien ihr dieser Abschnitt ihres Lebens als goldenes Zeitalter, in dem sie geglaubt hatte, alle schlimmen Dinge der Vergangenheit lägen für immer hinter ihr.
Aber es hatte nicht sollen sein. Der Krieg war ausgebrochen, Jimmy war nach Frankreich gegangen, und sie hatte ihr Baby verloren.
Im Royal Herbert zu arbeiten und anschließend hierherzukommen hatte ihr erneut ein Gefühl von Erfüllung gegeben. Sie war zu der Meinung gelangt, dass nach dem Krieg all die Erfahrungen, die sie und Jimmy gemacht hatten, ihnen ermöglichen würden, gemeinsam ein neues Leben aufzubauen, das sogar noch besser sein würde als das erste Jahr ihrer Ehe.
Diese Hoffnung schien jetzt verloren. Ihr früher einmal so starker und unerschütterlicher Jimmy war ein gebrochener Mann und würde gänzlich auf sie angewiesen sein. Dank Blessard war ihre beschämende Vergangenheit in aller Munde. Statt der Achtung und Bewunderung, die man ihr früher entgegengebracht hatte, würde man über sie tuscheln und sie mit Missachtung strafen. Noch dazu waren ihre Mittel knapp, sodass sie es sich nicht leisten konnten, irgendwohin zu ziehen und ganz neu anzufangen.
»Was ist los?«, fragte Vera. »Du siehst aus, als würdest du gleich in Tränen ausbrechen.«
»Ich muss bloß daran denken, wie sehr ich das alles vermissen werde.« Belle brachte ein schwaches Lächeln zustande und setzte sich neben ihre Freundin aufs Bett. Sie wollte Vera keinen Kummer machen, indem sie ihr erzählte, was tatsächlich in ihr vorging. »Die Gespräche, das Lachen, das schlechte Essen. Ich weiß, dassich mich auf mein bequemes Bett und Mogs Essen und alles andere freuen sollte, doch eigentlich habe ich ein bisschen Angst.«
Vera legte beide Arme um sie und drückte sie an sich. Sie war sehr einfühlsam und ahnte vermutlich den wahren Grund für Belles Widerstreben, nach Hause zu fahren. »Alles kommt in Ordnung, da bin ich mir ganz sicher. Jimmy wird wieder ganz der Alte sein, und die Menschen in deinem Heimatort werden irgendwann vergessen, was sie in der Zeitung über dich gelesen haben. Vielleicht bekommst du ein Baby – denk doch nur, wie schön das wäre! Und ab Neujahr kämpfen die Amerikaner mit uns, und dann ist der Krieg bald vorbei.«
Insgeheim dachte Belle, dass die einzige Gewissheit bei dieser Aufzählung die Tatsache war, dass ab Januar die Amerikaner mitkämpfen würden. Doch Vera sorgte sich schon genug um ihre Brüder, ohne sich auch noch Gedanken um ihre englische Freundin machen zu müssen.
»In dem Moment, in dem ich die weißen Klippen von Dover sehe, geht’s mir wieder gut«, sagte Belle. »Und vergiss bloß nicht, mich in England zu besuchen, bevor du wieder nach Neuseeland fährst!«
»Sieh mal, Jimmy, wie schön es hier ist!«, rief Belle, als der Wagen, der sie am Bahnhof von Sevenoaks abgeholt hatte, in eine lange Auffahrt einbog, an deren Ende sich ein prächtiges georgianisches Landhaus befand.
Das Laub der Bäume an der Allee zeigte bereits herbstliche Farben. Hinter einem Gatterzaun zur Rechten grasten Schafe auf einer Wiese, und auf der linken
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