Der Zauber Von Avalon 02 - Im Schatten der Lichtertore
beugte auch er sich über die Quelle. Er schob die Lippen vor und trank mit lautem Schlürfen. Bald glitzerten Wassertropfen auf seinen kreisrunden Augenbrauen.
Nachdem Tamwyn so viel wie möglich getrunken hatte, füllte er seine Wasserflasche und war überzeugt, dass sie immer eine Spur von der wunderbaren Süße dieses Wassers behalten würde, auch wenn er sie noch so oft mit anderem füllte. Er steckte die Flasche zurück in sein Bündel und legte sich auf den Rücken, um auszuruhen. Den Kopf bettete er auf den kleinen Moosfleck neben der Quelle, wobei er auf die schmerzende Stelle am Hinterkopf achtete. Dieses Moos, nahm er an, würde weicher sein als jedes Kopfkissen.
Doch das stimmte nicht. Etwas stach ihn, eine scharfe Spitze von irgendetwas. Er runzelte die Stirn und setzte sich auf. Was war das überhaupt für ein Moos?
Er betrachtete es genauer und sah nichts Ungewöhnliches. Neugierig klopfte er mit der flachen Hand auf das dicke grüne Polster. Es schien so weich wie in seiner Vorstellung zu sein, üppig und tief. Dann – spürte er eine Kante.
Er hielt den Atem an. Etwas war unter dem Moos begraben. Vielleicht ein rechteckiger Stein oder ein Holzstück. Oder
. . .
nun, er musste es einfach herausfinden.
Rasch grub er die Finger in die Erde unter dem Moos. Er spürte etwas Weiches und eine vollkommen gerade Kante, hob das Ding und riss es aus den grünen Pflanzen. Jetzt war er überzeugt, dass es weder ein Stein noch ein Stück Holz war.
Es war ein Kasten.
Er zog ihn heraus, wischte die feuchten Erdklumpen ab und hielt ihn ans Gesicht. In dem flackernden grünen Licht der Halle leuchtete er gespenstisch – ein schmaler Kasten aus glattem hellbraunem Holz. An der Oberfläche waren keine Markierungen zu sehen. Aber als Tamwyn den Kasten schüttelte, raschelte es darin.
Inzwischen hatten Henni und Flederwisch aufgehört zu trinken und beobachteten ihn. Tamwyn war ganz auf seine Entdeckung konzentriert. Hatte vielleicht Krystallus oder einer der begleitenden Forscher den Kasten hier zurückgelassen?
Mit zitternden Händen hob er den Deckel. Darunter lagein zusammengerolltes Pergament mit Goldrand, das mit einer grauen Locke zusammengebunden war. Dieses Haar hatte Tamwyn im Traum gesehen, aber auch so hätte er es erkannt durch eine Berührung, durch seinen Glanz, die ein einziges Wort in ihm hervorriefen.
Vater.
Sorgfältig knüpfte er die Locke auf und drückte sie in der Hand. Dann setzte er sich neben das Bündel, das seinen übrigen Besitz enthielt: die zerbrochene Klinge und den Griff seines Dolchs, die Wasserflasche und das Holz für die Harfe, das er noch kaum bearbeitet hatte.
Schließlich entfaltete er die Rolle und las die Botschaft. In blauer Tinte und kühner, flüssiger Schrift verfasst, schienen ihn die Worte direkt anzuspringen. Fast konnte er die tiefe Stimme seines Vaters und den nachdenklichen Tonfall hören.
Dagdas Tag,
am 27. seit Mittsommer
Jahr 987 von Avalon
Ah, diese lange vergangenen Tage! Als ich vor mehr als zweihundert Jahren zum ersten Mal diese große Kernholzhalle betrat, belasteten mich keine Pflichten jenseits des Abenteuers, das ich selbst gewählt hatte, keine Sorgen jenseits der bevorstehenden Gefahren.
Jetzt kehre ich in ganz anderem Zustand zurück. Meine festgelegte Absicht ist noch gewaltiger als zuvor – im Stamm und den Ästen des großen Baums einen Weg hinauf zu finden. Aber meinen besten Freunden habe ich anvertraut, dass es mein eigentliches
Ziel ist, die Sterne oben aufzusuchen und endlich das große Geheimnis ihrer Natur zu ergründen. Das ist eine Aufgabe, die mich seit meiner Kindheit beschäftigt. Doch jetzt, da ich sie in Angriff genommen habe und wieder in dieser Halle stehe, trage ich eine viel größere Last als die magische Fackel von meinem Vater. Es ist eine Last, die ich in mir trage: die Gesichter meiner Frau und meines Kindes, Halona und Tamwyn. Denn ich habe sie verloren. Und doch sehe ich selbst jetzt an diesem fernen Ort ihre Gesichter so klar wie an unserem letzten, sternenübersäten gemeinsamen Morgen.
Ich frage mich wahrhaftig, warum ich mich jetzt für diese lange und gefährliche Reise zu den Sternen entschieden habe. Bestimmt nicht, weil meine Kraft auf ihrem Höhepunkt angelangt wäre; bestimmt nicht, weil der Zeitpunkt günstig erscheint. Vielleicht suche ich letzten Endes gar nicht die Sterne, sondern fliehe nur vor der Vergangenheit. Die Sterne sind hell und weit entfernt, doch meine Wunden sind dunkel und
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