Der Zauber von Savannah Winds
mich. Nach einem langen Arbeitstag ist es angenehm, wenn wir unseren abendlichen Tee gemeinsam trinken, über den Tag und das Vieh sprechen – und natürlich über die Nachrichten aus Europa, die immer ernster klingen. Dann vergesse ich, dass Sam noch keine zwanzig ist, denn er besitzt das Auftreten, die Weisheit und die Stärke eines weitaus älteren Menschen. Allerdings stellt dieses wilde Land so hohe Anforderungen, dass Jungen zwangsläufig zu Männern werden.
Heute Abend haben wir noch lange nach dem Essen miteinander gesprochen, obwohl wir wussten, dass der morgige Tag vor dem Morgengrauen beginnt. Das Vieh aller umliegenden Farmen wurde zusammengetrieben und wird zum Schlachthof nach Longreach hinuntergebracht. Das wird einige Wochen dauern, aber ich habe es schon oft gemacht, und jetzt, da unser Land im Krieg ist, dürfen die Fleischvorräte nicht ausgehen.
Der Staub mehrerer Hundert Rinder stieg in einer dichten Wolke auf, als Frauen und Männer sie in gleichmäßigem Tempo von einem Wasserloch zum nächsten nach Longreach trieben.
Annie fand diesen Viehtrieb hinunter zu den Schlachthöfen viel unterhaltsamer als für gewöhnlich, weil sie dabei ausnahmsweise nicht nur die Gesellschaft anderer Frauen hatte, sondern auch die ihrer besten Freundin und Nachbarin Susan Daley. Da so viele Männer schon eingerückt waren, hatten die Frauen, Schwestern und Töchter die schwere Arbeit übernommen, denn sie wollten unbedingt beweisen, dass ihnen das Feuer im Herd nicht ausgehen würde, sie die Farmen bewirtschaften und die Gesundheit des Viehs bewahren konnten.
Keine Aufgabe war zu mühselig, wenn es galt, diesen Krieg zu gewinnen, damit ihre Männer heil nach Hause zurückkehren könnten. Sie waren eine zähe Brut, diese Frauen im Outback von Queensland, von der Sonne gebräunt, mit rauen Händen, männlicher Kleidung und einem Humor, der so derb war wie das Land, das sie sich untertan machen wollten. Sie würden so hart und furchtlos kämpfen wie ihre Männer, um den Sieg davonzutragen.
Ein paar ältere Männer ritten voraus und führten die Herde auf den richtigen Pfad. Das Rückgrat der Gruppe jedoch bildeten die zahlreichen einheimischen Viehtreiber. Sie demonstrierten, wie gut sie reiten und mit dem Lasso umgehen konnten, wenn sie verirrte Tiere einfingen und die Herde in einem gemäßigten Tempo vorantrieben, damit die Rinder nicht überfordert und ihre Fettreserven nicht angegriffen wurden.
Die Blue Heelers schnappten nach Hufen und jagten hinter ausreißenden Tieren her, schossen blitzartig hin und her und liefen kaum Gefahr, getreten oder niedergetrampelt zu werden. Annie bemerkte stolz, wie gut sich Pegs Welpen auf ihrem ersten langen Viehtrieb machten.
Während Annie neben ihrer Freundin Sue Daley ritt, beobachtete sie Djati und Sam, die sich entfernten, um einen Ochsen wieder einzufangen. »Ich weiß nicht, wie ich es ohne die beiden geschafft hätte«, murmelte sie. »Ihre Hilfe ist unersetzlich. Anscheinend sind sie für diese Arbeit geboren.«
»Sam ist ein hübscher Junge«, meinte Sue, während sie beobachteten, wie er sich aus dem Sattel beugte, den Ochsen packte und wieder zur Herde zurückbrachte. »Muss doch nett sein, anständige männliche Gesellschaft zu haben, nachdem du so lange allein warst.«
Annie beäugte sie misstrauisch, aber da Sue sich vor dem Staub schützen wollte, war ihr Gesicht zum größten Teil hinter einem Schal verborgen. »Ich weiß nicht, was du damit sagen willst«, sagte sie spitz. »Er ist ein Angestellter – und noch ein Junge.«
Sues Augen unter der breiten Hutkrempe blitzten. »Ich finde ihn ziemlich männlich«, erwiderte sie, »und noch dazu hübsch.« Sie kicherte. »Wenn ich Ted nicht hätte und in deiner Lage wäre, könnte ich mit so einem Kerl wie dem in meiner Nähe für nichts garantieren.«
»Sei nicht albern!« Annie stieg die Röte ins Gesicht. »Ich bin eine ehrbare Witwe.«
»Ja, aber Ehrbarkeit ist nicht alles. Du bist auch erst Mitte zwanzig und seit fast drei Jahren allein – du musst inzwischen unruhig werden. Ted ist nicht mal drei Monate weg, aber mir fehlen die Behaglichkeiten bereits, wenn du weißt, was ich meine.«
Annie hatte genug gehört. Sie spornte die Stute zum Galopp an und ritt in der nächsten Stunde neben der Herde.
Dennoch gingen ihr Sues Worte im Kopf herum, und sie musste sich eingestehen, dass sie von Sam eingenommen war und die gegenseitige Anziehung an den langen gemeinsamen Abenden durchaus gespürt hatte.
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