Der Zauber von Savannah Winds
ersten Zug genommen und die lange, anstrengende Reise nach London angetreten.
Da die Strecke in der Nacht zuvor bombardiert worden war, musste der Zug unterwegs oft anhalten. Schließlich musste Sam in einen Bus umsteigen, um zum nächsten Bahnhof zu gelangen. Er bewunderte die stoische Art, mit der die Engländer alles in Kauf nahmen, denn anscheinend führten sie ihren Alltag in dem stillen, entschlossenen Glauben fort, dass dieser Krieg zu gewinnen war.
Als Sam in London den Bahnhof verließ, schaute er sich ungläubig um. Die Stadt war eine Offenbarung. Straßen und Bürgersteige lagen unter den Schutthaufen eingestürzter Gebäude begraben. Wasserrohre waren geplatzt, elektrische Leitungen liefen durch die Trümmer wie schwarze Schlangen. Die Überreste noch qualmender Häuser und Büroblocks sahen aus wie Skelette; ihre geschwärzten Innenräume waren den Elementen ausgesetzt. Sandsäcke stapelten sich in Eingängen, verschwitzte Männer riefen durcheinander, während sie die Straße zu räumen versuchten, um den Verkehr durchzulassen. Kinder schwärmten über den Trümmergrundstücken aus, suchten nach Schätzen und gaben vor, Kampfpiloten zu sein.
Dichter Rauch und Brandgeruch hingen in der Luft. Dennoch spazierten Männer mit Melone und Regenschirmen an Sam vorbei, als sei es ein ganz normaler Montagmorgen. Sie gingen wie gewohnt zur Arbeit, und nichts würde sie aufhalten.
Sam beobachtete Frauen, die mit Einkaufskörben über Trümmerberge kletterten und Witze machten. Über allem ragte die majestätische Kuppel von St. Paul’s heiter und unversehrt auf – ein Leuchtturm der Hoffnung in einer umkämpften Stadt.
Staunend schüttelte er den Kopf, obwohl er bereits von der Hartnäckigkeit der Briten gehört hatte, die sich hier vor seinen Augen manifestierte.
Die Straßen sahen ganz anders aus als in Sams Kindheit. Er beschloss, es mit der U-Bahn zu versuchen. Als er in die Dunkelheit hinabstieg, war er überrascht, weil es nur so wimmelte von Menschen, die dort kampierten, obwohl gerade kein Luftangriff stattfand. Man erklärte ihm, dass die Schutzräume so klein seien, dass immer jemand bleiben müsse, um sicherzustellen, dass die Familie bei Bombenalarm einen Platz fände.
Die Fahrt nach Hackney dauerte nicht lange. Die Verwüstung dort schockierte Sam noch mehr. Offensichtlich hatte das East End das meiste abbekommen, denn kaum ein Haus war stehen geblieben. Straßen waren unter Schuttbergen oder in riesigen Kratern verschwunden; und auch hier war die Luft voller Rauch und dem ätzenden Geruch nach verbranntem Gummi und glühendem Metall.
Um sich zurechtzufinden, suchte Sam einen Orientierungspunkt – aber es war zwecklos. »Verzeihen Sie«, fragte er eine Frau, die eilig über die Trümmer kletterte, »können Sie mir sagen, wo ich die Petticoat Lane finde?«
Argwöhnisch beäugte sie seine Uniform. »Sie sind einer von den Aussies, nicht wahr? Was wollen Sie in der Petticoat Lane?«
»Da bin ich geboren, Missus. Ich versuche, meine Familie zu finden.«
Sie kannte die Straße nicht, beschrieb ihm aber den Weg zum Markt, jedoch nicht, ohne ihn zu warnen. »Wahrscheinlich ist sie ausgebombt worden«, sagte sie, »wie die meisten von uns. Wenn Sie niemanden finden, dann kann man Ihnen vielleicht in der Notunterkunft in der Hackney Road weiterhelfen.«
Sam tippte an seinen Hut und folgte ihrer Wegbeschreibung. Seltsam, den Cockney-Akzent wieder zu hören. Er war Musik in seinen Ohren.
Sobald er um die Ecke bog, überfluteten ihn die Erinnerungen. Die Häuserzeile war schwer beschädigt, Fenster waren vernagelt, Schornsteine umgekippt und zerstört, Planen über Dächer gespannt, um den Regen abzuwehren. Am Ende der Straße klaffte ein Krater, der mindestens acht Häuser und die Badeanstalt verschluckt hatte – aber Nummer sechsundvierzig stand noch. Offensichtlich hatte jemand die Treppe vor der Haustür geschrubbt und gekalkt. Er wusste noch, dass seine Mutter das jeden Morgen gemacht hatte – das sei eine Sache des Stolzes, hatte sie gesagt–, doch jetzt, mitten in dieser Verwüstung, erschien es ziemlich absurd.
Mit rasendem Puls lief er die Straße entlang; seine Stiefel hallten auf dem rissigen Bürgersteig wider, und er war sich bewusst, dass ihn hinter jeder Gardine und in jedem düsteren Eingang wachsame Augenpaare verfolgten. Die Kinder Londons waren noch immer sehr präsent; er hatte gehört, dass die meisten nach ihrer Evakuierung wieder nach Hause zurückgekehrt waren, da ihre
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