Der Zauber von Savannah Winds
Eltern sie lieber in der Nähe hatten, als sie bei Fremden auf dem fernen Land zu lassen. Die Jungen spielten auf der Straße Fußball so wie er damals; die Mädchen hüpften oder spielten Himmel und Hölle auf dem Bürgersteig, während ihre Mütter vor dem Haus den neuesten Klatsch austauschten und Sam argwöhnisch beobachteten.
Bei der Nummer sechsundvierzig waren zwei Fenster vernagelt; die Dachrinne war kaputt; die Haustür hatte Risse und wurde von Holzlatten zusammengehalten. Er atmete tief durch und klopfte an die Tür, bevor er den Mut verlor.
Die Tür wurde aufgerissen, und eine laute Stimme brüllte: »Ich hab euch Rasselbande doch gesagt, ihr sollt hier nicht herumlungern. Wenn ich euch dabei erwische, dass ihr an meine Tür ballert … « Die Frau wurde rot und verschränkte die Arme über der geblümten Kittelschürze, die ihr bis an die Knie reichte. »Ich habe keinen Platz mehr für Untermieter«, sagte sie in gemäßigterem Ton. »Tut mir leid, mein Guter. Sie haben sich umsonst herbemüht.«
Sam stand wie gelähmt vor der Tür. »Man hat mir gesagt, du wärst tot«, brachte er hervor.
»Ich weiß nicht, was Sie wollen«, sagte sie misstrauisch. »Wer ist tot? Was wollen Sie hier? Sie sind doch Aussie, oder?«
»Mum«, sagte er eindringlich, »ich bin’s, Sam. Ich weiß, ich bin gewachsen, aber ich habe mich doch bestimmt nicht so sehr verändert?«
Sie starrte ihn an, nahm seine Züge nach und nach in sich auf und erbleichte. »Sam? O mein Gott! Sam.«
Er fing sie gerade noch auf, bevor sie in Ohnmacht fiel, trug sie hinein und legte sie auf die Couch im vorderen Zimmer, von dem er noch wusste, dass es nur an Sonntagen benutzt wurde. Inzwischen war es ein provisorisches Schlafzimmer. Decken und Kissen waren hinter der Couch gestapelt, Kleidung häufte sich auf dem Esstisch. Das Fenster war zugenagelt, wodurch der Raum finster und bedrückend wirkte.
Sam zündete die Gaslampe an der Wand an und eilte hinaus, um Wasser zu holen. Die Küche war noch unverändert mit einem Herd, einem abgesprungenen Emailspülbecken und der Vorratskammer. Das Linoleum war verblasst und abgetreten, der Putz blätterte, und die Hintertür wurde von einer Sperrholzplatte zusammengehalten.
Als er mit einer Tasse Wasser zurückkam, bewegte sich seine Mutter und versuchte sich aufzurichten. »Bist du das wirklich, Sam? Wie ist das möglich?«
Er nahm ihre zitternde Hand. »Ja, Mum. Erwachsen und doppelt so hässlich.«
Fassungslos riss sie die Augen auf und betrachtete ihn genau. »Aber ich bin zurückgekehrt, um dich abzuholen, sobald dein Vater wieder Arbeit hatte, und da hieß es, du seist an Lungenentzündung gestorben.«
Er setzte sich neben sie auf die Sofakante und legte ihr den Arm um die Schultern. »Mir hat man auch gesagt, du wärst tot«, sagte er leise. »Ich kann kaum glauben, dass ich dich wiedergefunden habe.«
»O Sam«, seufzte sie und fuhr ihm mit den Fingern durch die Haare. »Es ist ein Wunder.« Sie schluchzte, schlang die Arme um ihn und hielt ihn fest, als wolle sie ihn nie wieder loslassen.
Sam atmete ihren Geruch ein, den er noch genau in Erinnerung hatte. Er spürte die vertrauten Arme und wusste, dass seine Mutter um ihn geweint und nie aufgehört hatte, den kleinen Jungen zu lieben, den sie verloren zu haben glaubte.
Er blieb für den Rest seines Urlaubs bei ihr, und sie erneuerten vorsichtig das Band, das vor so vielen Jahren durchtrennt worden war. Sie weinte, als er ihr vom Waisenhaus erzählte, wo man ihn wie einen Sklaven behandelt hatte – und lächelte, als er von Annie und Savannah Winds und von seinen Zukunftsplänen berichtete.
Sam stellte fest, dass sein Vater die Familie vor langer Zeit verlassen hatte. Seine Mutter hatte Untermieter aufgenommen und war putzen gegangen, um die Miete bezahlen zu können. Sie hatte keine weiteren Kinder bekommen, und obwohl sie noch immer Untermieter aufnahm, verdiente sie gutes Geld in einer benachbarten Munitionsfabrik. Jeden Abend redeten die beiden bis spät in die Nacht hinein und unterbrachen ihre Unterhaltung nur, um in den nächsten öffentlichen Schutzraum zu laufen, wenn die Sirenen eine Bombardierung ankündigten.
Sam begriff sehr schnell, wie entsetzlich das Leben im Krieg in London war, und seine Bewunderung für die Menschen im East End wuchs täglich.
Am letzten Morgen seines Urlaubs drückte er seine Mutter fest an sich und versicherte ihr, dass er sie liebe und sobald wie möglich zurückkommen und sie mit nach
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