Der Zauberberg
erschütterte, wie er so dalag, ein tolles, tief aufsteigendes Triumphgelächter von innen her seine Brust, und sein Herz stockte und schmerzte von einer nie gekannten, ausschweifenden Freude und Hoffnung; bald wieder erblaßte er vor Schrecken und Bangen, und es waren die Schläge des Gewissens selbst, mit denen sein Herz in raschem, fliegendem Takt gegen die Rippen pochte.
{281} Joachim ließ ihn am ersten Tage ganz in Ruhe und vermied jede Erörterung. Schonend trat er ein paarmal ins Krankenzimmer, nickte dem Liegenden zu und fragte der guten Form wegen, ob ihm was abgehe. Übrigens fiel es ihm um so leichter, Hans Castorps Scheu vor einer Auseinandersetzung zu erkennen und zu achten, als er sie teilte und sich nach seiner Auffassung sogar in einer peinlicheren Lage befand als dieser.
Aber am Sonntagvormittag, nach seiner Rückkehr von dem wie früher allein zurückgelegten Morgenspaziergang, verschob er es trotzdem nicht länger, das nun unmittelbar Notwendigste mit seinem Vetter zu beraten. Er stellte sich an dessen Bett und sagte aufseufzend:
»Ja, es hilft alles nichts, es müssen nun Schritte geschehen. Sie erwarten dich ja zu Hause.«
»Noch nicht«, antwortete Hans Castorp.
»Nein, aber in den nächsten Tagen, Mittwoch oder Donnerstag.«
»Ach,« sagte Hans Castorp, »sie erwarten mich überhaupt nicht so genau auf den Tag. Die haben anderes zu tun, als auf mich zu warten und die Tage zu zählen, bis ich wiederkomme. Wenn ich komme, so bin ich da, und Onkel Tienappel sagt: ›Da bist du ja auch wieder!‹ und Onkel James sagt: ›Na, war’s schön.‹ Und wenn ich nicht komme, so dauert es lange, bis es ihnen auffällt, da kannst du sicher sein. Selbstverständlich müßte man sie mit der Zeit benachrichtigen …«
»Du kannst dir denken,« sagte Joachim und seufzte wieder, »wie unangenehm mir die Sache ist! Was soll denn jetzt werden? Natürlich fühle ich mich doch sozusagen verantwortlich. Du kommst hier herauf, um mich zu besuchen, und ich führe dich ein hier oben, und nun sitzt du fest, und niemand weiß, wann du wieder loskommst und deine Stelle antreten kannst. Du mußt einsehen, daß mir das im höchsten Grade peinlich ist.«
{282} »Erlaube mir!« sagte Hans Castorp, immer die Hände unter dem Kopf. »Was machst denn du dir für Kopfzerbrechen? Das ist doch Unsinn. Bin ich heraufgekommen, um dich zu besuchen? Auch; aber in erster Linie doch schließlich, um mich zu erholen, auf Vorschrift von Heidekind. Na, und nun zeigt sich eben, daß ich erholungsbedürftiger bin, als er und wir alle uns haben träumen lassen. Ich bin ja wohl nicht der erste, der glaubte, hier eine Stippvisite zu machen, und für den es dann anders kam. Denke doch nur zum Beispiel an Tous les deux’ zweiten Sohn, und wie es den hier denn doch noch ganz anders getroffen hat, – ich weiß nicht, ob er noch lebt, vielleicht haben sie ihn abgeholt während einer Mahlzeit. Daß ich etwas krank bin, ist mir ja eine Überraschung, ich muß mich erst darein finden, mich hier als Patient und richtig als einer von euch zu fühlen, statt, wie bisher, nur als Gast. Und dann überrascht es mich doch auch wieder fast gar nicht, denn so recht prachtvoll instand habe ich mich eigentlich niemals gefühlt, und wenn ich denke, wie früh meine beiden Eltern gestorben sind, – woher sollte die Pracht denn schließlich auch kommen! Daß du einen kleinen Knacks hast, nicht wahr, wenn er nun auch so gut wie kuriert ist, darüber machen wir uns ja alle nichts vor, und also kann es ja sein, daß es ein bißchen in unsrer Familie liegt, Behrens wenigstens machte so eine Bemerkung. Jedenfalls liege ich hier schon seit gestern und überlege mir, wie mir doch eigentlich immer zumute war und wie ich mich zu dem Ganzen verhielt, zum Leben, weißt du, und seinen Anforderungen. Ein gewisser Ernst und eine gewisse Abneigung gegen robustes und lautes Wesen lag immer in meiner Natur, – wir sprachen noch neulich davon, und daß ich manchmal fast Lust gehabt hätte, geistlich zu werden, aus Interesse für traurige und erbauliche Dinge, – so ein schwarzes Tuch, weißt du, mit einem silbernen Kreuz darauf oder R. I. P. … Requiescat in pace … das ist eigentlich das schönste Wort und mir viel sympathischer {283} als ›Hoch soll er leben‹, was doch mehr ein Radau ist. Das alles, denke ich mir, kommt wohl daher, daß ich selbst einen Knacks habe und mich von Anfang an auf die Krankheit verstehe, – es zeigt sich bei dieser Gelegenheit.
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