Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
auch gleich für drei Uhr, da schon die Drei im Spiele ist. Die dreißig Minuten werden als Auftakt zur runden Stunde von drei bis vier Uhr verstanden und innerlich beseitigt: so macht man es unter solchen Umständen. Und so beschränkte sich denn die Dauer der großen Liegekur schließlich und eigentlich wieder auf eine Stunde, – die übrigens an ihrem Ende vermindert, weggestutzt und gleichsam apostrophiert wurde. Der Apostroph war Dr. Krokowski.
    Ja, Dr. Krokowski beschrieb auf seinem selbständigen Nachmittagsrundgang keinen Bogen mehr um Hans Castorp. Dieser zählte nun mit, er war nicht länger ein Intervall und Hiatus, er war Patient, er wurde gefragt und nicht links liegengelassen, wie es zu seinem geheimen und leichten, aber täglich wieder empfundenen Ärger so lange geschehen war. Es war am Montag gewesen, daß Dr. Krokowski zum erstenmal im Zimmer erschienen war, – wir sagen »erschienen«, denn das ist das rechte Wort für den sonderbaren und sogar etwas entsetzlichen Eindruck, dessen Hans Castorp sich damals nicht hatte erwehren können. Er hatte im Halb- oder Viertelschlummer gelegen, als er aufschreckend gewahrte, daß der Assistent im Zimmer war, ohne durch die Tür hereingelangt zu sein, und von der Außenseite her auf ihn zuschritt. Denn sein Weg war nicht über den Korridor, sondern durch die äußeren Loggien gewesen, und durch die offene Balkontür war er eingetreten, so daß sich die Vorstellung aufdrängte, als sei er durch die Lüfte gekommen. Da hatte er nun jedenfalls an Hans Castorps Lager gestanden, schwarzbleich, breitschultrig und stämmig, der Apostroph der Stunde, und in seinem geteilten Bart waren gelblich und mannhaft lächelnd die Zähne zu sehen gewesen.
    »Sie scheinen überrascht, mich zu sehen, Herr Castorp,« hatte er mit baritonaler Milde, schleppend, unbedingt etwas geziert und mit einem exotischen Gaumen-r gesprochen, das er {291} jedoch nicht rollte, sondern durch ein nur einmaliges Anschlagen der Zunge gleich hinter den oberen Vorderzähnen erzeugte; »ich erfülle aber lediglich eine angenehme Pflicht, wenn ich bei Ihnen nun auch nach dem Rechten sehe. Ihr Verhältnis zu uns ist in eine neue Phase getreten, über Nacht ist aus dem Gaste ein Kamerad geworden …« (Das Wort »Kamerad« hatte Hans Castorp etwas geängstigt.) »Wer hätte es gedacht!« hatte Dr. Krokowski kameradschaftlich gescherzt … »Wer hätte es gedacht an dem Abend, als ich Sie zuerst begrüßen durfte und Sie meiner irrigen Auffassung – damals war sie irrig – mit der Erklärung begegneten, Sie seien vollkommen gesund. Ich glaube, ich drückte damals etwas wie einen Zweifel aus, aber, ich versichere Sie, ich meinte es nicht so! Ich will mich nicht scharfsichtiger hinstellen, als ich bin, ich dachte damals an keine feuchte Stelle, ich meinte es anders, allgemeiner, philosophischer, ich verlautbarte meinen Zweifel daran, daß ›Mensch‹ und ›vollkommene Gesundheit‹ überhaupt Reimworte seien. Und auch heute noch, auch nach dem Verlauf Ihrer Untersuchung, kann ich, wie ich nun einmal bin, und im Unterschiede von meinem verehrten Chef, diese feuchte Stelle da« – und er hatte mit der Fingerspitze leicht Hans Castorps Schulter berührt – »nicht als im Vordergrunde des Interesses stehend erachten. Sie ist für mich eine sekundäre Erscheinung … Das Organische ist immer sekundär …«
    Hans Castorp war zusammengezuckt.
    »… Und also ist Ihr Katarrh in meinen Augen eine Erscheinung dritter Ordnung«, hatte Dr. Krokowski sehr leicht hinzugefügt. »Wie steht es damit? Die Bettruhe wird in dieser Hinsicht gewiß rasch das Ihre tun. Was haben Sie heute gemessen?« Und von da an hatte der Besuch des Assistenten den Charakter einer harmlosen Kontrollvisite getragen, wie er ihn denn auch in den folgenden Tagen und Wochen beständig trug: Dr. Krokowski kam ¾4 Uhr oder auch schon etwas frü {292} her über den Balkon herein, begrüßte den Liegenden auf mannhaft heitere Art, stellte die einfachsten ärztlichen Fragen, leitete auch wohl ein kurzes, persönlicher bestimmtes Geplauder ein, scherzte kameradschaftlich, – und wenn alles dies eines Anfluges von Bedenklichkeit nicht entbehrte, so gewöhnt man sich endlich auch an das Bedenkliche, falls es in seinen Grenzen bleibt, und Hans Castorp fand bald nichts mehr gegen das regelmäßige Erscheinen Dr. Krokowskis zu erinnern, das nun einmal zum stehenden Normaltage gehörte und die Stunde der großen Liegekur apostrophierte.
    Es

Weitere Kostenlose Bücher