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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Inkrafttreten der Tagesordnung verkündete.
    Hans Castorp hatte keinen Kalender auf seinen Ausflug mitgenommen, und so fand er sich in betreff des Datums nicht immer ganz genau auf dem laufenden. Dann und wann forderte er Auskunft von seinem Vetter, der aber in diesem Punkte auch nicht jederzeit seiner Sache eben sicher war. Immerhin boten die Sonntage, besonders der zweite, vierzehntägige mit Konzert, den Hans Castorp auf diese Weise verbrachte, einigen Anhalt, und so viel war gewiß, daß der September nachgerade ziemlich weit, bis gegen seine Mitte hin, vorgeschritten war. Draußen im Tale war, seitdem Hans Castorp Bettlage eingenommen, das trübe und kalte Wetter, das damals geherrscht hatte, herrlichen Hochsommertagen gewichen, ungezählten solcher Tage, einer ganzen Serie davon, so daß Joachim allmorgendlich in weißen Hosen bei seinem Vetter eingetreten war und dieser ein redliches Bedauern, ein Bedauern der Seele und seiner jungen Muskeln, über den Verlust solcher Prachtzeit nicht hatte unterdrücken können. Sogar eine »Schande« {309} hatte er es einmal mit leiser Stimme genannt, daß er sie solcherart versäume, – dann aber zu seiner Beschwichtigung hinzugefügt, daß er ja auf freiem Fuße auch nicht viel mehr als jetzt damit anzufangen gewußt hätte, da sich ihm ausgiebige Bewegung hier erfahrungsgemäß verbiete. Und einigen Anteil an dem warmen Schimmer dort draußen gewährte die breite, weit offene Balkontür ihm immerhin.
    Aber gegen das Ende der ihm auferlegten Zurückgezogenheit schlug wieder das Wetter um. Über Nacht war es neblig und kalt geworden, das Tal hüllte sich in nasses Schneegestöber, und der trockene Hauch der Dampfheizung erfüllte das Zimmer. So war es auch an dem Tage, als Hans Castorp bei der Morgenvisite der Ärzte den Hofrat erinnerte, daß er heute drei Wochen liege, und um die Erlaubnis bat, aufzustehen.
    »Was Kuckuck, sind Sie schon fertig?« sagte Behrens. »Lassen Sie mal sehen; wahrhaftig, es stimmt. Gott, wie man alt wird. Geändert hat sich mit Ihnen ja nicht gerade viel unterdessen. Was, gestern war es normal? Ja, bis auf die 6-Uhr-Nachmittagsmessung. Na, Castorp, dann will ich ja auch nicht so sein und will Sie der menschlichen Sozietät zurückerstatten. Stehen Sie auf und wandeln Sie, Mann! In den gegebenen Grenzen und Maßen natürlich. Wir machen nächstens Ihr Innenkonterfei. Vormerken!« sagte er im Hinausgehen zu Dr. Krokowski, indem er mit seinem riesigen Daumen über die Schulter auf Hans Castorp deutete und den bleichen Assistenten mit seinen blutigen, tränenden blauen Augen ansah … Hans Castorp verließ die »Remise«.
    Mit hochgeschlagenem Mantelkragen und in Gummischuhen begleitete er seinen Vetter zum ersten Male wieder zur Bank am Wasserlauf und zurück, nicht ohne unterwegs die Frage aufzuwerfen, wie lange der Hofrat ihn wohl hätte liegen lassen, wenn er die Frist nicht als abgelaufen gemeldet hätte. Und Joachim, gebrochenen Blickes, den Mund wie zu einem {310} hoffnungslosen »Ach« geöffnet, machte in die Luft hinein die Gebärde des Unabsehbaren.

»Mein Gott, ich sehe!«
    Es dauerte eine Woche, bis Hans Castorp durch die Oberin von Mylendonk ins Durchleuchtungslaboratorium bestellt wurde. Er mochte nicht drängen. Man war beschäftigt im Hause »Berghof«, offenbar hatten Ärzte und Personal alle Hände voll zu tun. Neue Gäste waren in den letzten Tagen angelangt: zwei russische Studenten mit dickem Haar und geschlossenen schwarzen Blusen, die keinen Schimmer von Wäsche sehen ließen; ein holländisches Ehepaar, dem an Settembrinis Tische Plätze angewiesen wurden; ein buckliger Mexikaner, der die Tischgesellschaft durch furchtbare Anfälle von Atemnot in Schrecken setzte: er klammerte sich dabei mit ehernem Griff seiner langen Hände an seine Nachbarn, ob Herr oder Dame, hielt fest wie ein Schraubstock und zog die entsetzt Widerstrebenden, um Hilfe Rufenden so in seine Ängste hinein. Kurzum, der Speisesaal war beinahe voll besetzt, obgleich die Wintersaison erst mit dem Oktober begann. Und die Schwere von Hans Castorps Fall, sein Krankheitsgrad, gab ihm kaum ein Recht, besonderen Anspruch auf Beachtung zu erheben. Frau Stöhr etwa war in all ihrer Dummheit und Unbildung ohne Zweifel viel kränker als er, von Dr. Blumenkohl ganz zu schweigen. Man hätte jedes Sinnes für Rangordnung und Abstand entbehren müssen, um in Hans Castorps Fall nicht bescheidene Zurückhaltung zu üben, – besonders da eine solche Gesinnung zum

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