Der Zauberberg
Geiste des Hauses gehörte. Leichtkranke galten nicht viel, er hatte es öfters aus den Gesprächen herausgehört. Man sprach mit Geringschätzung von ihnen, nach dem hierorts geltenden Maßstab, sie wurden über die Achsel angesehen, und zwar nicht allein von den Höher- und Hochgradigen, sondern auch von solchen, {311} die selbst nur »leicht« waren: womit diese freilich Geringschätzung auch ihrerselbst an den Tag legten, aber eine höhere Selbstachtung retteten, indem sie dem Maßstab sich unterwarfen. So ist es menschlich. »Ach, der!« konnten sie wohl voneinander sagen, »dem fehlt eigentlich nichts, kaum daß er das Recht hat, hier zu sein. Nicht mal eine Kaverne hat er …« Dies war der Geist; er war aristokratisch in seinem besonderen Sinn, und Hans Castorp salutierte ihn aus angeborener Achtung vor Gesetz und Ordnung jeder Art. Ländlich, sittlich, heißt es. Reisende zeigen sich wenig gebildet, wenn sie über die Sitten und Werte ihrer Wirtsvölker sich lustig machen, und der Eigenschaften, die Ehre schaffen, gibt es diese und jene. Sogar gegen Joachim selbst beobachtete Hans Castorp eine gewisse Ehrerbietung und Rücksicht, – nicht sowohl, weil dieser der länger Eingesessene war und sein Anleiter und Cicerone in dieser Welt –, sondern namentlich, weil er der zweifellos »Schwerere« war. Da aber alles so lag, war es begreiflich, daß man dazu neigte, aus seinem Falle das Mögliche zu machen und in Hinsicht auf ihn auch wohl zu übertreiben, um zur Aristokratie zu gehören oder ihr näher zu kommen. Auch Hans Castorp, wenn er bei Tische gefragt wurde, nannte wohl ein paar Striche mehr, als er in Wahrheit gemessen, und konnte unmöglich umhin, sich geschmeichelt zu fühlen, wenn man ihm mit dem Finger drohte, wie einem, der es faustdick hinter den Ohren hat. Aber auch, wenn er ein wenig auftrug, blieb er immer noch, eigentlich gesprochen, eine Person von geringen Graden, und so waren Geduld und Zurückhaltung denn sicherlich das ihm zukommende Betragen.
Er hatte die Lebensweise seiner ersten drei Wochen, dies schon vertraute, gleichmäßige und genau geregelte Leben an Joachims Seite wieder aufgenommen, und es ging wie am Schnürchen vom ersten Tage an, als sei es nie unterbrochen worden. In der Tat war diese Unterbrechung nichtig gewesen; {312} er bekam es gleich gelegentlich seines ersten Wiedererscheinens bei Tische deutlich zu spüren. Zwar hatte Joachim, der auf solche Markierungen ein ganz bestimmtes und geflissentliches Gewicht legte, Sorge getragen, daß ein paar Blumen den Platz des Erstandenen schmückten. Aber die Begrüßung durch die Tischgenossen war wenig festlich, unterschied sich von früheren, denen eine Trennung nicht von drei Wochen, sondern von drei Stunden vorangegangen war, nur unwesentlich: weniger aus Gleichgültigkeit gegen seine einfache und sympathische Person und weil diese Leute allzusehr mit sich selbst, das heißt: mit ihrem interessanten Körper beschäftigt waren, als darum, weil ihnen die Zwischenzeit nicht bewußt geworden war. Und Hans Castorp konnte ihnen darin ohne Schwierigkeit folgen, denn er selbst saß an seinem Platz am Tischende, zwischen der Lehrerin und Miß Robinson, nicht anders, als habe er spätestens gestern zuletzt hier gesessen.
Wenn man aber am Tische selbst von der Beendigung seiner Zurückgezogenheit nicht viel Aufhebens gemacht hatte, – wie hätte man im weiteren Saal welches davon machen sollen? Dort hatte buchstäblich niemand auch nur Notiz davon genommen, – mit alleiniger Ausnahme Settembrinis, der nach Schluß der Mahlzeit zu spaßhaft-freundschaftlicher Begrüßung herangekommen war. Hans Castorp hätte freilich noch eine weitere Einschränkung gemacht, deren Berechtigung wir dahinstellen müssen. Er behauptete bei sich, daß Clawdia Chauchat sein Wiedererscheinen bemerkt –, gleich bei ihrem, wie immer, verspäteten Eintreten, nach dem Zufallen der Glastür, ihren schmalen Blick habe auf ihm ruhen lassen, dem er mit seinem begegnet war, und kaum, daß sie sich niedergesetzt, noch einmal über die Schulter sich lächelnd nach ihm umgesehen habe: lächelnd, wie vor drei Wochen, bevor er zur Untersuchung gegangen. Und eine so unverhohlene und rücksichtslose Bewegung war das gewesen – rücksichtslos in betreff seinerselbst {313} wie auch der übrigen Gästeschaft –, daß er nicht gewußt hatte, ob er sich darüber entzücken oder es als ein Zeichen von Geringschätzung verstehen und sich darüber ärgern sollte. Auf
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