Der Zauberberg
jeden Fall hatte sein Herz sich zusammengekrampft unter diesen Blicken, welche die zwischen der Kranken und ihm obwaltende gesellschaftliche Unbekanntschaft auf eine in seinen Augen ungeheuerliche und berauschende Weise verleugnet und Lügen gestraft hatte, – sich fast schmerzhaft zusammengekrampft schon, als die Glastür klirrte, denn auf diesen Augenblick hatte er mit kurz gehendem Atem gewartet.
Es will nachgetragen sein, daß Hans Castorps innere Beziehungen zu der Patientin vom Guten Russentisch, die Teilnahme seiner Sinne und seines bescheidenen Geistes an ihrer mittelgroßen, weich schleichenden, kirgisenäugigen Person, kurzum seine Verliebtheit (das Wort habe Statt, obgleich es ein Wort von »unten«, ein Wort der Ebene ist und die Vorstellung erwecken könnte, als sei das Liedchen »Wie berührt mich wundersam« hier irgendwie anwendbar gewesen) – während seiner Zurückgezogenheit sehr starke Fortschritte gemacht hatte. Ihr Bild hatte ihm vorgeschwebt, wenn er, frühwach, in das sich zögernd entschleiernde Zimmer, oder, am Abend, in die dichter werdende Dämmerung geblickt hatte (auch zu jener Stunde, als Settembrini unter plötzlichem Aufflammen des Lichtes bei ihm eingetreten war, hatte es ihm überaus deutlich vorgeschwebt, und dies war der Grund gewesen, weshalb er bei dem Anblick des Humanisten errötet war); an ihren Mund, ihre Wangenknochen, ihre Augen, deren Farbe, Form, Stellung ihm in die Seele schnitt, ihren schlaffen Rücken, ihre Kopfhaltung, den Halswirbel im Nackenausschnitt ihrer Bluse, ihre von dünnster Gaze verklärten Arme hatte er gedacht während der einzelnen Stunden des zerkleinerten Tages, – und wenn wir verschwiegen, daß dies das Mittel gewesen, wodurch ihm die Stunden so mühelos vergingen, so geschah es, weil wir sym {314} pathisch teilnehmen an der Gewissensunruhe, die sich in das erschreckende Glück dieser Bilder und Gesichte mischte. Ja, es war Schreck, Erschütterung damit verbunden, eine ins Unbestimmte, Unbegrenzte und vollständig Abenteuerliche ausschweifende Hoffnung, Freude und Angst, die namenlos war, aber des jungen Mannes Herz – sein Herz im eigentlichen und körperlichen Sinn – zuweilen so jäh zusammenpreßte, daß er die eine Hand in die Gegend dieses Organs, die andere aber zur Stirn führte (sie wie einen Schirm über die Augen legte) und flüsterte:
»Mein Gott!«
Denn hinter der Stirn waren Gedanken oder Halbgedanken, die den Bildern und Gesichten ihre zu weit gehende Süßigkeit eigentlich erst verliehen, und die sich auf Madame Chauchats Nachlässigkeit und Rücksichtslosigkeit bezogen, auf ihr Kranksein, die Steigerung und Betonung ihres Körpers durch die Krankheit, die Verkörperlichung ihres Wesens durch die Krankheit, an der er, Hans Castorp, laut ärztlichen Spruches nun teilhaben sollte. Er begriff hinter seiner Stirn die abenteuerliche Freiheit, mit der Frau Chauchat durch ihr Umblicken und Lächeln die zwischen ihnen bestehende gesellschaftliche Unbekanntschaft außer acht ließ, so, als seien sie überhaupt keine gesellschaftlichen Wesen und als sei es nicht einmal nötig, daß sie miteinander
sprächen
… und ebendies war es, worüber er erschrak: in demselben Sinne erschrak wie damals im Untersuchungszimmer, als er von Joachims Oberkörper eilig suchend zu seinen Augen emporgeblickt hatte, – mit dem Unterschiede, daß damals Mitleid und Sorge die Gründe seines Erschreckens gewesen, hier aber ganz anderes im Spiele war.
Nun also ging das Berghof-Leben, dies gunstreiche und wohlgeregelte Leben auf engem Schauplatz wieder seinen gleichmäßigen Gang, – Hans Castorp, in Erwartung der Innenaufnahme, fuhr fort, es mit dem guten Joachim zu teilen, {315} indem er es Stunde für Stunde genau so trieb wie dieser; und diese Nachbarschaft war wohl gut für den jungen Mann. Denn obgleich es nur eine Krankennachbarschaft war, so war viel militärische Ehrbarkeit darin: eine Ehrbarkeit, die freilich, ohne es gewahr zu werden, schon im Begriffe stand, im Kurdienste Genüge zu finden, so daß dieser gleichsam zum Ersatzmittel tiefländischer Pflichterfüllung und zum untergeschobenen Berufe wurde, – Hans Castorp war nicht so dumm, es nicht ganz genau zu bemerken. Doch aber fühlte er wohl ihre zügelnde, zurückhaltende Wirkung auf sein zivilistisches Gemüt, – sogar mochte es diese Nachbarschaft sein, ihr Beispiel und die Beaufsichtigung durch sie, was ihn von äußeren Schritten und blinden Unternehmungen zurückhielt.
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