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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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sondern erschöpfte sich in Fragen nach Näherem und Weiterem: über das Bild, sein Format und ob es ein Kopf- oder Kniestück sei; auch über die Stunde der Sitzungen, – während doch Fräulein Engelhart mit Einzelheiten auch hier nicht dienen konnte und ihn auf die Ergebnisse weiterer Nachforschungen vertrösten mußte.
    Hans Castorp maß 37,7 nach dem Empfang dieser Nachricht. Weit mehr noch, als die Besuche, die Frau Chauchat empfing, schmerzten und beunruhigten ihn diejenigen, die sie machte. Frau Chauchats Privat- und Eigenleben als solches an und für sich und schon unabhängig von seinem Inhalt hatte angefangen, ihm Schmerz und Unruhe zu bereiten, und wie sehr mußte sich beides erst verschärfen, da ihm Mehrdeutigkeiten über {318} diesen Inhalt zu Ohren kamen! Zwar schien es allgemein möglich, daß die Beziehungen des russischen Besuchers zu seiner Landsmännin nüchterner und harmloser Natur waren; aber Hans Castorp war seit einiger Zeit geneigt, Nüchternheit und Harmlosigkeit für Schnickschnack zu halten, – wie er sich denn auch nicht überwinden oder bereden konnte, die Ölmalerei als Beziehung zwischen einem forsch redenden Witwer und einer schmaläugig-leisetreterischen jungen Frau für etwas anderes anzusehen. Der Geschmack, den der Hofrat mit der Wahl seines Modells bekundete, entsprach zu sehr seinem eigenen, als daß er hier an Nüchternheit hätte glauben können, worin ihn die Vorstellung von des Hofrats blauen Backen und seinen rot geäderten Quellaugen denn auch nur wenig unterstützte.
    Eine Wahrnehmung, die er in diesen Tagen auf eigene Hand und zufällig machte, wirkte in anderer Weise auf ihn ein, obgleich es sich abermals um eine Bestätigung seines Geschmakkes handelte. Es war da am querstehenden Tische der Frau Salomon und des gefräßigen Schülers mit der Brille, links von dem der Vettern, nächst der seitlichen Glastür, ein Kranker, Mannheimer seiner Herkunft nach, wie Hans Castorp gehört hatte, etwa dreißigjährig, mit gelichtetem Haupthaar, kariösen Zähnen und einer zaghaften Redeweise, – derselbe, der zuweilen während der Abendgeselligkeit auf dem Piano spielte, und zwar meistens den Hochzeitsmarsch aus dem »Sommernachtstraum«. Er sollte sehr fromm sein, wie es begreiflicherweise nicht selten unter Denen hier oben der Fall sei, so hatte Hans Castorp sagen hören. Allsonntäglich sollte er den Gottesdienst drunten in »Platz« besuchen und in der Liegekur andächtige Bücher lesen, Bücher mit einem Kelch oder Palmzweigen auf dem Vorderdeckel. Dieser nun, so bemerkte Hans Castorp eines Tages, hatte seine Blicke ebendort, wo er selbst sie hatte, – hing mit ihnen an Madame Chauchats schmiegsamer Person, und zwar auf eine Art, die scheu und zudringlich bis zum Hündi {319} schen war. Nachdem Hans Castorp es einmal beobachtet, konnte er nicht umhin, es wieder und wieder festzustellen. Er sah ihn abends im Spielzimmer inmitten der Gäste stehen, trübe verloren in den Anblick der lieblichen, wenn auch schadhaften Frau, die drüben im kleinen Salon auf dem Sofa saß und mit der wollhaarigen Tamara (so hieß das humoristische Mädchen), mit Dr. Blumenkohl und den konkaven und hängeschultrigen Herren ihres Tisches plauderte; sah ihn sich abwenden, sich herumdrücken und wieder langsam, mit seitlich gedrehten Augäpfeln und kläglich geschürzter Oberlippe den Kopf über die Schulter dorthin wenden. Er sah ihn sich verfärben und
nicht
aufblicken, dann aber dennoch aufblicken und gierig schauen, wenn die Glastür fiel und Frau Chauchat zu ihrem Platze glitt. Und mehrmals sah er, wie der Arme sich nach Tische zwischen Ausgang und Gutem Russentisch aufstellte, um Frau Chauchat an sich vorübergehen zu lassen und sie, die seiner nicht achtete, aus unmittelbarer Nähe mit Augen zu verschlingen, die bis zum Grunde mit Traurigkeit angefüllt waren.
    Auch diese Entdeckung also setzte dem jungen Hans Castorp nicht wenig zu, obgleich die klägliche Schaubegier des Mannheimers ihn nicht in dem Sinne beunruhigen konnte, wie der Privatverkehr Clawdia Chauchats mit Hofrat Behrens, einem ihm an Alter, Person und Lebensstellung so übergeordneten Mann. Clawdia kümmerte sich gar nicht um den Mannheimer, – es wäre Hans Castorps innerer Geschärftheit nicht entgangen, wenn es der Fall gewesen wäre, und nicht der widrige Stachel der Eifersucht war es also in diesem Falle, den er in der Seele spürte. Aber er erprobte alle Empfindungen, die Rausch und Leidenschaft eben erproben,

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