Der Zauberberg
Denn er sah wohl, was der brave Joachim von einer gewissen, täglich auf ihn eindringenden Apfelsinenatmosphäre, worin es runde braune Augen, einen kleinen Rubin, viel schwach gerechtfertigte Lachlust und eine äußerlich wohlgebildete Brust gab, auszustehen hatte, und die Vernunft und Ehrliebe, mit der Joachim den Einfluß dieser Atmosphäre scheute und floh, ergriff Hans Castorp, hielt ihn selbst in einiger Zucht und Ordnung und hinderte ihn, sich von der Schmaläugigen sozusagen »einen Bleistift zu leihen«, – wozu er ohne die disziplinierende Nachbarschaft aller Erfahrung nach sehr bereitgewesen wäre.
Joachim sprach niemals von der lachlustigen Marusja, und so verbot es sich auch für Hans Castorp, mit ihm von Clawdia Chauchat zu sprechen. Er hielt sich schadlos durch verstohlenen Austausch mit der Lehrerin zu seiner Rechten bei Tische, wobei er das alte Mädchen durch Neckereien mit ihrer Schwäche für die schmiegsame Kranke zum Erröten brachte und unterdessen die Kinn- und Würdenstütze des alten Castorp nachahmte. Auch drang er in sie, über Madame Chauchats persönliche Verhältnisse, über ihre Herkunft, ihren Mann, ihr Alter, die Art ihres Krankheitsfalles Neues und Wissenswertes {316} in Erfahrung zu bringen. Ob sie denn Kinder habe, wollte er wissen. – Aber nein doch, sie hatte keine. Was sollte eine Frau wie sie wohl mit Kindern beginnen? Wahrscheinlich war es ihr streng untersagt, welche zu haben – und andererseits: was würden denn das auch wohl für Kinder sein? Hans Castorp mußte dem beipflichten. Nachgerade sei es auch wohl zu spät dafür, vermutete er mit gewaltsamer Sachlichkeit. Zuweilen, im Profil, scheine Madame Chauchats Gesicht ihm fast schon ein wenig scharf. Ob sie wohl über dreißig sei? – Fräulein Engelhart widersprach heftig. Clawdia dreißig? Allerschlimmstenfalls sei sie achtundzwanzig. Und was das Profil betraf, so verbot sie ihrem Tischnachbar, so etwas zu sagen. Clawdias Profil sei von der weichsten Jugendlichkeit und Süße, wenn es natürlich auch ein interessantes Profil sei und nicht das irgendeiner gesunden Gans. Und zur Strafe fügte Fräulein Engelhart ohne Pause hinzu, sie wisse, daß Frau Chauchat öfters Herrenbesuch empfange, den Besuch eines in »Platz« wohnenden Landsmannes: sie empfange ihn nachmittags auf ihrem Zimmer.
Das war gut gezielt. Hans Castorps Gesicht verzerrte sich gegen alle Bemühung, und auch die auf »Was nicht gar« und »Sehe einer an« gestimmten Redensarten, mit denen er die Eröffnung zu behandeln versuchte, waren verzerrt. Unfähig, das Vorhandensein dieses Landsmannes auf die leichte Achsel zu nehmen, wie er sich anfangs den Anschein hatte geben wollen, kam er mit zuckenden Lippen beständig auf ihn zurück. Ein jüngerer Mann? – Jung und ansehnlich, nach allem, was sie höre, erwiderte die Lehrerin; denn nach eigenem Augenschein konnte sie nicht urteilen. – Krank? – Höchstens leichtkrank! – Er wolle hoffen, sagte Hans Castorp höhnisch, daß mehr Wäsche an ihm zu sehen sei als bei den Landsleuten am Schlechten Russentisch, – wofür die Engelhart, noch immer zur Strafe, einstehen zu wollen erklärte. Da gab er zu, es sei eine Angelegenheit, um die man sich kümmern müsse, und be {317} auftragte sie ernstlich, in Erfahrung zu bringen, was es mit diesem aus und ein gehenden Landsmann auf sich habe. Statt ihm aber Nachrichten hierüber zu bringen, wußte sie einige Tage später etwas völlig Neues.
Sie wußte, daß Clawdia Chauchat gemalt werde, porträtiert – und fragte Hans Castorp, ob er es auch wisse. Wenn nicht, so könne er trotzdem überzeugt davon sein, sie habe es aus sicherster Quelle. Seit längerem sitze sie hier im Hause jemandem Modell zu ihrem Bildnis – und zwar wem? Dem Hofrat! Herrn Hofrat Behrens, der sie zu diesem Zweck beinahe täglich in seiner Privatwohnung bei sich sehe.
Diese Kunde ergriff Hans Castorp noch mehr als die vorige. Er machte fortan viele verzerrte Späße darüber. Nun, gewiß, es sei ja bekannt, daß der Hofrat in Öl male, – was die Lehrerin denn wolle, das sei nicht verboten, und so stehe es jedermann frei. In des Hofrats Witwerheim also? Hoffentlich sei wenigstens Fräulein von Mylendonk bei den Sitzungen anwesend. – Die habe wohl keine Zeit. – »Mehr Zeit als die Oberin sollte auch Behrens nicht haben«, sagte Hans Castorp streng. Aber obgleich damit etwas Endgültiges über die Sache gesagt schien, war er weit entfernt, sie fallen zu lassen,
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