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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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geliebt und ersehnt aus diesem Grunde von dem jungen Hans Castorp. Vor acht Tagen war er am Schalter in sehr nahe Berührung mit Madame Chauchat gekommen, so daß sie ihn sogar etwas gestoßen und mit flüchtiger Kopfwendung »Pardon« zu ihm ge {364} sagt hatte, – worauf er kraft einer febrilen Geistesgegenwart, die er segnete, zu antworten vermocht hatte:
    »Pas de quoi, Madame!«
    Welche Lebensgunst, dachte er, daß jeden Sonntagnachmittag mit Sicherheit in der Vorhalle Postverteilung stattfand! Man kann sagen, daß er die Woche konsumiert hatte, indem er auf die Wiederkehr derselben Stunde in sieben Tagen wartete, und Warten heißt: Voraneilen, heißt: Zeit und Gegenwart nicht als Geschenk, sondern nur als Hindernis empfinden, ihren Eigenwert verneinen und vernichten und sie im Geist überspringen. Warten, sagt man, sei langweilig. Es ist jedoch ebensowohl oder sogar eigentlich kurzweilig, indem es Zeitmengen verschlingt, ohne sie um ihrer selbst willen zu leben und auszunutzen. Man könnte sagen, der Nichts-als-Wartende gleiche einem Fresser, dessen Verdauungsapparat die Speisen, ohne ihre Nähr- und Nutzwerte zu verarbeiten, massenhaft durchtriebe. Man könnte weitergehen und sagen: wie unverdaute Speise ihren Mann nicht stärker mache, so mache verwartete Zeit nicht älter. Freilich kommt reines und unvermischtes Warten praktisch nicht vor.
    Es war also die Woche verschlungen und die Sonntagnachmittagspoststunde wieder in Kraft getreten, nicht anders, als wäre es immer noch die von vor sieben Tagen. Aufs erregendste fuhr sie fort, Gelegenheit zu machen, barg und bot in jeder Minute die Möglichkeit, mit Frau Chauchat in gesellschaftliche Beziehungen zu treten: Möglichkeiten, von denen Hans Castorp sich das Herz pressen und jagen ließ, ohne sie ins Wirkliche übertreten zu lassen. Dem standen Hemmungen entgegen, die teils militärischer, teils zivilistischer Natur waren: – teils nämlich mit der Gegenwart des ehrenhaften Joachim und mit Hans Castorps eigener Ehre und Pflicht zusammenhingen, teils aber auch in dem Gefühl ihren Grund hatten, daß gesellschaftliche Beziehungen zu Clawdia Chauchat,
ge {365} sittete
Beziehungen, bei denen man »Sie« sagte und Verbeugungen machte und womöglich Französisch sprach, – nicht nötig, nicht wünschenswert, nicht das Richtige seien … Er stand und sah sie lachend sprechen, genau wie Pribislav Hippe dereinst auf dem Schulhof sprechend gelacht hatte: ihr Mund öffnete sich ziemlich weit dabei, und ihre schiefstehenden graugrünen Augen über den Backenknochen zogen sich zu schmalen Ritzen zusammen. Das war durchaus nicht »schön«; aber es war, wie es war, und bei der Verliebtheit kommt das ästhetische Vernunfturteil so wenig zu seinem Recht, wie das moralische. –
    »Sie erwarten ebenfalls Briefschaften, Ingenieur?«
    So redete nur einer, ein Störender. Hans Castorp fuhr zusammen und wandte sich Herrn Settembrini zu, der lächelnd vor ihm stand. Es war das feine und humanistische Lächeln, mit dem er dereinst bei der Bank am Wasserlauf den Ankömmling zuerst begrüßt hatte, und wie damals schämte Hans Castorp sich, als er es sah. Aber wie oft er auch im Traume den »Drehorgelmann« von der Stelle zu drängen gesucht hatte, weil er »hier störe«, – der wachende Mensch ist besser als der träumende, und nicht nur zu seiner Beschämung und Ernüchterung wurde Hans Castorp dieses Lächelns wieder ansichtig, sondern auch mit Gefühlen dankbarer Bedürftigkeit. Er sagte:
    »Gott, Briefschaften, Herr Settembrini. Ich bin doch kein Ambassadeur! Vielleicht ist eine Postkarte da für einen von uns. Mein Vetter sieht eben mal nach.«
    »Mir hat der hinkende Teufel da vorn meine kleinen Korrespondenzen schon ausgehändigt«, sagte Settembrini und führte die Hand zur Seitentasche seines unvermeidlichen Flausrockes. »Interessante Dinge, Dinge von literarischer und sozialer Tragweite, ich leugne es nicht. Es handelt sich um ein enzyklopädisches Werk, an dem mitzuarbeiten ein humanitäres Institut mich würdigt … Kurz, um schöne Arbeit.« Herr {366} Settembrini brach ab. »Aber Ihre Angelegenheiten?« fragte er. »Wie steht es damit? Wie weit ist beispielsweise der Akklimatisierungsprozeß gediehen? Sie weilen alles in allem so lange noch nicht in unserer Mitte, daß die Frage nicht mehr an der Tagesordnung wäre.«
    »Danke, Herr Settembrini; es hat nach wie vor seine Schwierigkeiten damit. Ich halte für möglich, daß es das bis zum letzten Tage haben

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