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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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seinem schleichenden Wesen unterschied. Wir erinnern und wiederholen, daß dem Zustande, in dem er sich befand, in der Regel ein Drang und Zwang, sich zu offenbaren, eingeboren ist, ein Trieb zum Bekenntnis und Geständnis, eine blinde Eingenommenheit von sich selbst und eine Sucht, die Welt mit sich zu erfüllen, – desto befremdlicher für uns Nüchterne, je weniger Sinn, Vernunft und Hoffnung offenbar bei der Sache ist. Wie solche Leute es eigentlich anfangen, sich zu verraten, ist schwer zu sagen; sie können, scheint es, nichts tun und lassen, was sie nicht verriete, – besonders nun gar in einer Gesellschaft, von der ein urteilender Kopf bemerkt hatte, sie habe im ganzen nur zwei Dinge im Sinn, nämlich erstens Temperatur und dann – nochmals Temperatur, das heißt zum Beispiel die Frage, mit wem Frau Generalkonsul Wurmbrandt aus Wien sich für die Flatterhaftigkeit des Hauptmanns Miklosich schadlos halte: ob mit dem völlig genesenen schwedischen Recken oder mit dem Staatsanwalt Paravant aus Dortmund oder drittens mit beiden zugleich. Denn daß die Bande, die den Staatsanwalt und Frau Salomon aus Amsterdam mehrere Monate lang verknüpft hatten, nach gütlicher Übereinkunft gelöst worden waren und Frau Salomon, dem Zuge ihrer Jahre folgend, sich den zarteren Semestern zugewandt und den wulstlippigen Gänser vom Tische der {360} Kleefeld unter ihre Fittiche genommen oder, wie Frau Stöhr es in einer Art von Kanzleistil, dabei aber nicht ohne Anschaulichkeit ausdrückte, ihn »sich beigebogen« hatte, – das war sicher und bekannt, so daß folglich der Staatsanwalt freie Hand hatte, sich der Generalkonsulin wegen mit dem Schweden zu schlagen oder zu vertragen.
    Diese Prozesse also, die in der Berghofgesellschaft und besonders unter der febrilen Jugend anhängig waren, und bei denen die Balkondurchgänge (an den Glaswänden vorbei und das Geländer entlang) offenbar eine bedeutende Rolle spielten: diese Vorgänge hatte man im Sinn, sie bildeten einen Hauptbestandteil der hiesigen Lebensluft, – und auch damit ist das, was hier vorschwebt, nicht eigentlich ausgedrückt. Hans Castorp hatte nämlich den eigentümlichen Eindruck, daß auf einer Grundangelegenheit, welcher überall in der Welt eine hinlängliche, in Ernst und Scherz sich äußernde Wichtigkeit zugebilligt wird, hierorts denn doch ein Ton-, Wert- und Bedeutungszeichen lag, so schwer und vor Schwere so neu, daß es die Sache selbst in einem völlig neuen und, wenn nicht schrecklichen, so doch in seiner Neuheit erschreckenden Lichte erscheinen ließ. Indem wir dies aussagen, verändern wir unsere Mienen und bemerken, daß, wenn wir von den fraglichen Beziehungen bisher in einem leichten und spaßhaften Ton gesprochen haben sollten, es aus denselben geheimen Gründen geschehen wäre, aus denen es so oft geschieht, ohne daß für die Leichtigkeit oder Spaßhaftigkeit der Sache damit irgendetwas bewiesen wäre; und in der Sphäre, wo wir uns befinden, wäre das in der Tat noch weniger der Fall als anderwärts. Hans Castorp hatte geglaubt, sich auf jene gern bewitzelte Grundangelegenheit im üblichen Maße zu verstehen, und mochte mit Recht so geglaubt haben. Nun erkannte er, daß er sich im Flachlande nur sehr unzulänglich darauf verstanden, eigentlich sich in einfältiger Unwissenheit darüber befunden hatte, – {361} während hier persönliche Erfahrungen, deren Natur wir mehrfach anzudeuten versuchten, und die ihm in gewissen Augenblicken den Ausruf »Mein Gott!« abpreßten, ihn allerdings von innen her befähigten, den steigernden Akzent des Unerhörten, Abenteuerlich-Namenlosen wahrzunehmen und zu begreifen, den unter Denen hier oben die Sache allgemein und für jeden trug. Nicht daß man nicht auch hier darüber gewitzelt hätte. Aber weit mehr noch als unten trug hier diese Manier das Gepräge des Unsachgemäßen, sie hatte etwas Zähneklapperndes und Kurzatmiges, was sie als durchsichtigen Deckmantel für die darunter verborgene oder vielmehr nicht zu verbergende Not allzu deutlich kennzeichnete. Hans Castorp erinnerte sich des fleckigen Erblassens, das Joachim gezeigt hatte, als jener zum ersten und einzigen Mal in der unschuldig neckenden Art des Tieflandes die Rede auf Marusjas Körperlichkeit gebracht hatte. Er erinnerte sich auch der kalten Blässe, die, als er Frau Chauchat vom einfallenden Abendlichte befreit, sein eigenes Gesicht überzogen hatte, – und daran, daß er sie vorher und nachher bei verschiedenen Gelegenheiten

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