Der Zauberberg
innegeworden, zog er nur schweigend die Brauen zusammen und hielt {357} Schritt, denn unmöglich konnte er jenen allein voranlaufen lassen.
Den jungen Hans Castorp belebte der schöne Morgen. Auch hatten in der Depression seine Seelenkräfte sich heimlich ausgeruht, und klar leuchtete vor seinem Geist die Gewißheit, daß der Augenblick gekommen war, da der Bann, der auf ihm gelegen, gebrochen werden sollte. So griff er aus, den keuchenden, auch sonst widerstrebenden Joachim mit sich ziehend, und vor der Biegung des Weges, wo er eben ward und rechtshin den bewaldeten Hügel entlang führte, hatten sie Frau Chauchat so gut wie erreicht. Da verlangsamte Hans Castorp das Tempo wieder, um nicht in einem von Anstrengung verwilderten Zustand sein Vorhaben auszuführen. Und jenseits des Wegknies, zwischen Abhang und Bergwand, zwischen den rostig gefärbten Fichten, durch deren Zweige Sonnenlichter fielen, trug es sich zu und begab sich wunderbar, daß Hans Castorp, links von Joachim, die liebliche Kranke überholte, daß er mit männlichen Tritten an ihr vorüber ging, und in dem Augenblick, da er sich rechts neben ihr befand, mit einer hutlosen Verneigung und einem mit halber Stimme gesprochenen »Guten Morgen« sie
ehrerbietig
(wieso eigentlich: ehrerbietig) begrüßte und Antwort von ihr empfing: mit freundlicher, nicht weiter erstaunter Kopfneigung dankte sie, sagte auch ihrerseits guten Morgen in seiner Sprache, wobei ihre Augen lächelten, – und das alles war etwas anderes, etwas gründlich und beseligend anderes als der Blick auf seinen Stiefel, es war ein Glücksfall und eine Wendung der Dinge zum Guten und Allerbesten, ganz beispielloser Art und fast die Fassungskraft überschreitend; es war die Erlösung.
Auf Flügelsohlen, geblendet von vernunftloser Freude, im Besitz des Grußes, des Wortes, des Lächelns, eilte Hans Castorp an des mißbrauchten Joachim Seite vorwärts, der schweigend von jenem fort den Abhang hinunter blickte. Ein Streich war es {358} gewesen, ein ziemlich ausgelassener, und wohl sogar etwas wie Verrat und Tücke in Joachims Augen, das wußte Hans Castorp sehr gut. Es war nicht geradeso, wie wenn er jemand Wildfremdes um einen Bleistift ersucht hätte, – vielmehr wäre es beinahe ungehobelt gewesen, an einer Dame, mit der man seit Monaten unter demselben Dache lebte, steif und ohne Ehrenbezeigung vorüberzugehen; und war nicht neulich im Wartezimmer Clawdia sogar ins Gespräch mit ihnen gekommen? Darum mußte Joachim schweigen. Aber Hans Castorp verstand wohl, weshalb der ehrliebende Joachim sonst noch schwieg und abgewendeten Kopfes ging, während er selbst über seinen gelungenen Streich so ausbündig und durchgängerisch glücklich war. Glücklicher konnte nicht sein, wer etwa im Flachlande erlaubter-, aussichtsreicher- und im Grunde vergnügterweise einem gesunden Gänschen »sein Herz geschenkt« und großen Erfolg dabei gehabt hatte, – nein,
so glücklich
, wie er nun über das wenige, das er sich in guter Stunde geraubt und gesichert, konnte ein solcher nicht sein … Darum schlug er nach einer Weile seinem Vetter mit Macht auf die Schulter und sagte:
»Hallo, du, was ist mit dir? Es ist so schönes Wetter! Nachher wollen wir zum Kurhaus hinunter, da machen sie wahrscheinlich Musik, bedenke mal! Vielleicht spielen sie ›Hier an dem Herzen treu geborgen, die Blume, sieh, von jenem Morgen‹ aus ›Carmen‹. Was ist dir über die Leber gelaufen?«
»Nichts«, sagte Joachim. »Aber du siehst so heiß aus, ich fürchte, mit deiner Senkung ist es zu Ende.«
Es
war
zu Ende damit. Die beschämende Herabstimmung von Hans Castorps Natur war überwunden durch den Gruß, den er mit Clawdia Chauchat getauscht hatte, und ganz genau genommen, war es dies Bewußtsein, dem eigentlich seine Genugtuung galt. Ja, Joachim hatte recht gehabt: Merkurius stieg wieder! Er stieg, als Hans Castorp ihn nach dem Spaziergang zu Rate zog, auf rund 38 Grad.
{359} Enzyklopädie
Wenn gewisse Anspielungen Herrn Settembrinis Hans Castorp geärgert hatten, – verwundern durfte er sich nicht darüber und hatte kein Recht, den Humanisten erzieherischer Spürsucht zu zeihen. Ein Blinder hätte bemerken müssen, wie es um ihn stand: er selbst tat nichts, um es geheimzuhalten, eine gewisse Hochherzigkeit und noble Einfalt hinderte ihn einfach, aus seinem Herzen eine Mördergrube zu machen, worin er sich immerhin – und vorteilhaft, wenn man will, – von dem dünnhaarigen Verliebten aus Mannheim und
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