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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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auf manchem fremden Gesicht gewahr geworden war: auf zweien zugleich in der Regel, zum Beispiel auf den Gesichtern der Frau Salomon und des jungen Gänser in jenen Tagen, da das, was Frau Stöhr so redensartlich bezeichnet, sich zwischen ihnen angebahnt hatte. Er erinnerte sich, sagen wir, daran und verstand, daß es unter solchen Umständen nicht nur sehr schwer gewesen wäre, sich nicht zu »verraten«, sondern daß auch die Bemühung darum nur wenig gelohnt haben würde. Mit anderen Worten: es mochte denn doch wohl nicht allein Hoch- und Treuherzigkeit, sondern auch eine gewisse Ermutigung durch die Atmosphäre im Spiele sein, wenn Hans Castorp sich wenig bemüßigt fand, seinen Empfindungen Zwang anzutun und aus seinem Zustande ein Hehl zu machen.
    Wäre nicht die von Joachim sofort hervorgehobene Schwie {362} rigkeit gewesen, hier Bekanntschaften zu machen, diese Schwierigkeit, die man hauptsächlich darauf zurückführen muß, daß die Vettern in der Kurgesellschaft sozusagen eine Partie und Miniaturgruppe für sich bildeten, und daß der militärische Joachim, auf nichts als rasche Genesung bedacht, der näheren Berührung und Gemeinschaft mit den Leidensgenossen grundsätzlich abhold war: so hätte Hans Castorp noch weit mehr Gelegenheit gehabt und genommen, seine Gefühle hochherzig-zügellos unter die Leute zu bringen. Immerhin konnte Joachim ihn eines Abends während der Salongeselligkeit betreffen, wie er mit Hermine Kleefeld, ihren beiden Tischherren Gänser und Rasmussen und viertens dem Jungen mit dem Einglas und dem Fingernagel zusammenstand und mit Augen, die ihren übernormalen Glanz nicht verleugneten, mit bewegter Stimme eine Stegreifrede über Frau Chauchats eigen- und fremdartige Gesichtsbildung hielt, während seine Zuhörer Blicke tauschten, sich anstießen und kicherten.
    Das war peinigend für Joachim; aber der Urheber solcher Lustbarkeit war unempfindlich gegen die Enthüllung seines Zustandes, er mochte meinen, daß derselbe, unbeachtet und verborgen, nicht zu seinem Rechte gekommen wäre. Des allgemeinen Verständnisses dafür durfte er sicher sein. Die Schadenfreude, die sich darein mischte, nahm er in den Kauf. Nicht nur von seinem eigenen Tisch, sondern nachgerade auch von anderen, benachbarten blickte man auf ihn, um sich an seinem Erbleichen und Erröten zu weiden, wenn nach Beginn einer Mahlzeit die Glastür ins Schloß schmetterte, und auch hiermit war er wohl gar noch zufrieden, da es ihm schien, daß seinem Rausch, indem er Aufmerksamkeit erregte, eine gewisse Anerkennung und Bestätigung von außen zuteil werde, geeignet, seine Sache zu fördern, seine unbestimmten und unvernünftigen Hoffnungen zu ermutigen, – und das beglückte ihn sogar. Es kam dahin, daß man sich buchstäblich versammelte, um {363} dem Verblendeten zuzusehen. Das war etwa nach Tische auf der Terrasse oder am Sonntagnachmittag vor der Conciergeloge, wenn die Kurgäste dort ihre Post in Empfang nahmen, die an diesem Tage nicht auf die Zimmer verteilt wurde. Vielfach wußte man, daß da ein kolossal Beschwipster und Hochilluminierter sei, der sich alles anmerken ließ, und so standen etwa Frau Stöhr, Fräulein Engelhart, die Kleefeld nebst ihrer Freundin mit dem Tapirgesicht, der unheilbare Herr Albin, der junge Mann mit dem Fingernagel und noch dieses oder jenes Mitglied der Patientenschaft, – standen mit hinuntergezogenen Mündern und durch die Nase pruschend und sahen ihm zu, der, verloren und leidenschaftlich lächelnd, jene Hitze auf den Wangen, die ihn sofort am ersten Abend seines Hierseins ergriffen, jenen Glanz in den Augen, den schon der Husten des Herrenreiters darin entzündet, in einer bestimmten Richtung blickte …
    Eigentlich war es schön von Herrn Settembrini, daß er unter solchen Umständen auf Hans Castorp zutrat, um ihn in ein Gespräch zu ziehen und nach seinem Ergehen zu fragen; aber es ist zweifelhaft, ob dieser die menschenfreundliche Vorurteilslosigkeit, die darin lag, dankbar zu würdigen wußte. Es mochte im Vestibül sein, am Sonntagnachmittag. Beim Concierge drängten sich die Gäste und streckten die Hände nach ihrer Post. Auch Joachim war dort vorn. Sein Vetter war zurückgeblieben und trachtete in der beschriebenen Verfassung, einen Blick Clawdia Chauchats zu gewinnen, die mit ihrer Tischgesellschaft in der Nähe stand, wartend, daß das Gedräng an der Loge sich lichten möge. Es war eine Stunde, die die Kurgäste durcheinandermischte, eine Stunde der Gelegenheiten,

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