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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Vorstellung des Entblößtseins aufdringlich hervorrief, – ein jedenfalls ziemlich plumper Effekt.
    Trotzdem war Hans Castorps Lob berechtigt. Die matt schimmernde Weiße dieser zarten, aber nicht mageren Büste, die sich in der bläulichen Schleierdraperie verlor, hatte viel {392} Natur; sichtlich war sie mit Gefühl gemalt, aber unbeschadet einer gewissen Süßigkeit, die davon ausging, hatte der Künstler ihr eine Art von wissenschaftlicher Realität und lebendiger Genauigkeit zu verleihen gewußt. Er hatte sich des körnigen Charakters der Leinwand bedient, um ihn, namentlich in der Gegend der zart hervortretenden Schlüsselbeine, durch die Ölfarbe hindurch als natürliche Unebenheit der Hautoberfläche wirken zu lassen. Ein Leberfleckchen links, wo die Brust sich zu teilen begann, war nicht außer acht gelassen, und zwischen den Erhebungen glaubte man schwach-bläuliches Geäder durchscheinen zu sehen. Es war, als ginge unter dem Blick des Betrachters ein kaum merklicher Schauer von Sensitivität über diese Nacktheit, – gewagt zu sagen: man mochte sich einbilden, die Perspiration, den unsichtbaren Lebensdunst dieses Fleisches wahrzunehmen, so, als würde man, wenn man etwa die Lippen darauf drückte, nicht den Geruch von Farbe und Firnis, sondern den des menschlichen Körpers verspüren. Wir geben mit alldem die Eindrücke Hans Castorps wieder: aber wenn er besonders bereit war, solche Eindrücke zu empfangen, so ist doch sachlich festzustellen, daß Frau Chauchats Dekolleté das bei weitem bemerkenswerteste Stück Malerei in diesen Zimmern war.
    Hofrat Behrens schaukelte sich, die Hände in den Hosentaschen, auf Absätzen und Fußballen, während er seine Arbeit zugleich mit den Besuchern betrachtete.
    »Freut mich, Herr Kollege,« sagte er, »freut mich, daß es Ihnen einleuchtet. Es ist eben gut und kann gar nicht schaden, wenn man auch unter der Epidermis ein bißchen Bescheid weiß und mitmalen kann, was nicht zu sehen ist, – mit anderen Worten: wenn man zur Natur noch in einem andern Verhältnis steht als bloß dem lyrischen, wollen wir mal sagen; wenn man zum Beispiel im Nebenamt Arzt ist, Physiolog, Anatom und von den Dessous auch noch so seine stillen Kenntnisse hat, – das {393} kann von Vorteil sein, sagen Sie, was Sie wollen, es gibt entschieden ein Prä. Die Körperpelle da hat Wissenschaft, die können Sie mit dem Mikroskop auf ihre organische Richtigkeit untersuchen. Da sehen Sie nicht bloß die Schleim- und Hornschichten der Oberhaut, sondern darunter ist das Lederhautgewebe gedacht mit seinen Salbendrüsen und Schweißdrüsen und Blutgefäßen und Wärzchen, – und darunter wieder die Fetthaut, die Polsterung, wissen Sie, die Unterlage, die mit ihren vielen Fettzellen die holdseligen weiblichen Formen zustande bringt. Was aber mitgewußt und mitgedacht ist, das spricht auch mit. Es fließt Ihnen in die Hand und tut seine Wirkung, ist nicht da und irgendwie doch da, und das gibt Anschaulichkeit.«
    Hans Castorp war Feuer und Flamme für dies Gespräch, seine Stirn war gerötet, seine Augen eiferten, er wußte nicht, was er zuerst erwidern sollte, denn er hatte vieles zu sagen. Erstens beabsichtigte er, das Bild von der beschatteten Fensterwand fort an einen günstigeren Platz zu schaffen, zweitens wollte er unbedingt an des Hofrats Äußerungen über die Natur der Haut anknüpfen, die ihn dringlich interessierten, drittens aber einen eigenen allgemeinen und philosophischen Gedanken auszudrücken versuchen, der ihm ebenfalls höchlichst am Herzen lag. Während er schon die Hände an das Porträt legte, um es abzuhängen, fing er hastig an:
    »Jawohl, jawohl! Sehr gut, das ist wichtig. Ich möchte sagen … Das heißt, Herr Hofrat sagten: ›Noch in einem anderen Verhältnis.‹ Es wäre gut, wenn außer dem lyrischen – so, glaube ich, sagten Sie –, dem künstlerischen Verhältnis noch ein anderes vorhanden wäre, wenn man die Dinge, kurz gesagt, noch unter einem anderen Gesichtswinkel auffaßte, zum Beispiel dem medizinischen. Das ist kolossal zutreffend – entschuldigen Herr Hofrat –, ich meine, es ist darum so hervorragend richtig, weil es sich da eigentlich gar nicht um grundverschie {394} dene Verhältnisse und Gesichtswinkel handelt, sondern genau genommen immer um ein und denselben – bloß um Spielarten davon, ich meine: Schattierungen, ich meine also: Variationen von ein und demselben allgemeinen Interesse, von dem auch die künstlerische Beschäftigung bloß

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