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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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eingetroffen war, vor dem aber Hans Castorp sich etwas fürchtete, obgleich er sich ja bestens dafür gerüstet wußte. Sein Vetter suchte ihn zu beruhigen.
    »Du mußt es dir nicht allzu grimmig vorstellen,« sagte er, »nicht gerade arktisch. Man spürt die Kälte wenig wegen der {406} Lufttrockenheit und der Windstille. Wenn man sich gut verpackt, kann man bis tief in die Nacht auf dem Balkon bleiben, ohne zu frieren. Es ist die Geschichte mit der Temperaturumkehr oberhalb der Nebelgrenze, es wird wärmer in höheren Lagen, man hat das früher nicht so gewußt. Eher ist es schon kalt, wenn es regnet. Aber du hast ja nun deinen Liegesack, und geheizt wird auch ein bißchen, wenn Not an den Mann kommt.«
    Übrigens konnte von Überrumpelung und Gewalttätigkeit nicht die Rede sein, der Winter kam gelinde, er sah vorderhand nicht sehr anders aus, als mancher Tag, den auch der Hochsommer schon mit sich geführt hatte. Ein paar Tage lang hatte Südwind geweht, die Sonne drückte, das Tal schien verkürzt und verengt, nahe und nüchtern lagen die Alpenkulissen des Ausgangs. Dann zogen Wolken auf, drangen vom Piz Michel und Tinzenhorn gegen Nordosten vor, und das Tal verdunkelte sich. Dann regnete es schwer. Dann wurde der Regen unrein, weißlichgrau, Schnee hatte sich dareingemischt, es war schließlich nur noch Schnee, das Tal war angefüllt mit Gestöber, und da das reichlich lange so ging, auch die Temperatur unterdessen beträchtlich gefallen war, so konnte der Schnee nicht ganz wegschmelzen, er war naß, aber er blieb liegen, das Tal lag in dünnem, feuchtem, schadhaftem weißen Gewand, gegen welches das Nadelrauh der Lehnen schwarz abstach; im Speisesaal erwärmten die Röhren sich laulich. Das war Anfang November, um Allerseelen, und es war nicht neu. Auch im August war es schon so gewesen, und längst hatte man sich entwöhnt, den Schnee als ein Vorrecht des Winters zu betrachten. Stets und bei jeder Witterung, wenn auch nur von ferne, hatte man welchen vor Augen gehabt, denn immer schimmerten Reste und Spuren davon in den Spalten und Schründen der felsigen Rhätikonkette, die dem Taleingang vorzuliegen schien, und immer hatten die fernsten Bergmajestäten des Sü {407} dens im Schnee herübergegrüßt. Aber beides hielt an, der Schneefall und der Wärmerückgang. Der Himmel hing blaßgrau und niedrig über dem Tal, löste sich in Flocken hin, die lautlos und unaufhörlich fielen, in übertriebener und leicht beunruhigender Ausgiebigkeit, und stündlich wurde es kälter. Es kam der Morgen, da Hans Castorp in seinem Zimmer sieben Grad hatte, und am folgenden waren es nur noch fünf. Das war der Frost, und er hielt sich in Grenzen, aber er hielt sich. Es hatte bei Nacht gefroren, nun fror es auch am Tage, und zwar von morgens bis abends, wobei es weiterschneite, mit kurzen Unterbrechungen den vierten und fünften, den siebenten Tag. Der Schnee sammelte sich nun mächtig an, nachgerade wurde er zur Verlegenheit. Man hatte auf dem Dienstwege zur Bank am Wasserlauf, sowie auf dem Fahrweg hinab ins Tal, Gehbahnen geschaufelt; aber sie waren schmal, es gab kein Ausweichen darauf, bei Begegnungen mußte man in den Schneedamm zur Seite treten und versank bis zum Knie. Eine Schneewalze aus Stein, von einem Pferde gezogen, das ein Mann am Halfter führte, rollte den ganzen Tag über die Straßen des Kurortes drunten, und eine Schlittentram, gelb und von altfränkisch postkutschenhafter Gestalt, mit einem Schneepfluge vorn, der die weißen Massen schaufelnd beiseite warf, verkehrte zwischen dem Kurhausviertel und dem »Dorf« genannten nördlichen Teil der Siedelung. Die Welt, die enge, hohe und abgeschiedene Welt Derer hier oben, erschien nun dick bepelzt und gepolstert, es war kein Pfeiler und Pfahl, der nicht eine weiße Haube trug, die Treppenstufen zum Berghofportal verschwanden, verwandelten sich in eine schiefe Ebene, schwere, humoristisch geformte Kissen lasteten überall auf den Zweigen der Kiefern, da und dort rutschte die Masse ab, zerstäubte und zog als Wolke und weißer Nebel zwischen den Stämmen dahin. Verschneit lag rings das Gebirge, rauh in den unteren Bezirken, weich zugedeckt die über die Baumgrenze hinausragenden, {408} verschieden gestalteten Gipfel. Es war dunkel, die Sonne stand nur als ein bleicher Schein hinter dem Geschleier. Aber der Schnee gab ein indirektes und mildes Licht, eine milchige Helligkeit, die Welt und Menschen gut kleidete, wenn auch die Nasen unter den weißen oder farbigen

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