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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Sprache zu bringen versucht, war aber auf einmütige und so verstockte Ablehnung dieses Themas gestoßen, daß es ihn beschämt und empört hatte. Frau Stöhr war geradezu grob geworden. Was ihm einfalle, von so etwas anzufangen, hatte sie gefragt, und was er denn eigentlich für eine Kinderstube genossen. Die Ordnung des Hauses schütze sie, die Patientenschaft, sorgfältig davor, von solchen Geschichten berührt zu werden, und da komme nun so ein Grünschnabel und rede ganz laut davon, noch dazu beim Braten und dazu wieder in Gegenwart des Dr. Blumenkohl, den es täglich ereilen könne. (Dies hinter der Hand.) Wiederhole sich das, so werde sie klagbar werden. Da war es, daß der Gescholtene den Entschluß gefaßt und ihm auch Ausdruck verliehen hatte, für seine Person {443} dem abgeschiedenen Hausgenossen durch einen Besuch und stille Andachtsverrichtung an seinem Lager die letzte Ehre zu erweisen, und auch Joachim hatte er bestimmt, das zu tun.
    Durch Vermittlung Schwester Alfredas erlangten sie Eintritt in das Sterbezimmer, das im ersten Stock unter ihren eigenen Zimmern gelegen war. Die Witwe empfing sie, eine kleine, zerzauste, von Nachtwachen mitgenommene Blonde, das Taschentuch vor dem Munde, mit roter Nase und in dickem Plaidmantel, dessen Kragen sie aufgestellt hatte, denn es war sehr kalt im Zimmer. Die Heizung war abgestellt, die Balkontür offen. Gedämpft sagten die jungen Leute das Erforderliche und gingen dann, durch eine Handbewegung schmerzlich eingeladen, durch das Zimmer zum Bett, – mit ehrerbietig vorwärts wiegenden Schritten gingen sie, ohne Benutzung der Stiefelabsätze, und standen in Betrachtung am Lager des Toten, ein jeder nach seiner Art: Joachim dienstlich geschlossen, in salutierender Halbverbeugung, Hans Castorp gelöst und versunken, die Hände vor sich gekreuzt, den Kopf auf der Schulter, mit einer Miene, ähnlich derjenigen, mit der er Musik zu hören pflegte. Des Herrenreiters Kopf lag hoch gebettet, so daß der Körper, dieser lange Aufbau und vielfache Zeugungskreis des Lebens, mit der Erhöhung der Füße am Ende unter der Decke, desto flacher, fast brettartig flach erschien. Ein Blumengewinde lag in der Gegend der Knie, und der daraus hervorragende Palmzweig berührte die großen, gelben, knöchernen Hände, die auf der eingefallenen Brust gefaltet waren. Gelb und knöchern war auch das Gesicht mit dem kahlen Schädel, der gehöckerten Nase, den scharfen Backenknochen und dem buschigen, rotblonden Schnurrbart, dessen Dicke die grauen, stoppligen Höhlen der Wangen noch stärker vertiefte. Die Augen waren auf eine gewisse unnatürlich feste Weise geschlossen, – zugedrückt, mußte Hans Castorp denken, nicht zugemacht: den letzten Liebesdienst nannte man das, obgleich es im Sinne {444} der Überlebenden mehr, als um des Toten willen geschah. Auch mußte es beizeiten, gleich nach dem Tode geschehen; denn wenn erst die Myosinbildung in den Muskeln vorgeschritten war, so ging es nicht mehr, und er lag und starrte, und um die sinnige Vorstellung des »Schlummers« war es getan.
    Sachkundig und in mehr als einer Beziehung in seinem Elemente stand Hans Castorp am Lager, bewandert, aber fromm. »Er scheint zu schlafen«, sagte er aus Menschlichkeit, obgleich große Unterschiede vorhanden waren. Und dann begann er mit schicklich gedämpfter Stimme ein Gespräch mit der Witwe des Herrenreiters, zog über die Leidensgeschichte ihres Gatten, seine letzten Tage und Augenblicke, den zu bewerkstelligenden Transport des Körpers nach Kärnten Erkundigungen ein, die von einer teils medizinischen, teils geistlich-sittlichen Teilnahme und Eingeweihtheit zeugten. Die Witwe, in ihrer österreichisch schleppenden und näselnden Sprechweise und zuweilen aufschluchzend, fand es bemerkenswert, daß junge Leute zur Beschäftigung mit fremdem Kummer sich so aufgelegt zeigten; worauf Hans Castorp erwiderte, sein Vetter und er, sie seien ja selber krank, überdies habe er, für seine Person, frühe an den Sterbebetten naher Angehöriger gestanden, er sei Doppelwaise, von langer Hand her sei ihm der Tod vertraut, sozusagen. Welchen Beruf er gewählt habe, fragte sie. Er antwortete, er sei Techniker »gewesen«. – Gewesen? – Gewesen insofern, als nun ja die Krankheit und ein noch recht unbestimmt begrenzter Aufenthalt hier oben dazwischengekommen sei, was doch einen bedeutenden Einschnitt und möglicherweise etwas wie einen Lebenswendepunkt darstelle, was könne man wissen. (Joachim sah ihn mit

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