Der Zauberberg
wäre moralisch. Siehst du, das ist auch so ein Irrtum und Eigendünkel von Settembrini, noch einer, es ist ganz gut, daß ich gesprächsweise mal darauf komme. Nicht bloß die Menschenwürde meint er in Pacht zu haben, sondern auch die Moral, – mit seiner ›praktischen Lebensarbeit‹ und seinen Fortschritts-Sonntagsfeiern (als ob man nicht gerade Sonntags an was anderes zu denken hätte als an den Fortschritt) und mit seiner systematischen Ausmerzung der Leiden, wovon du übrigens nichts weißt, aber mir hat er zu meiner Belehrung davon erzählt, – systematisch will er sie ausmerzen, vermittelst eines Lexikons. Und wenn mir nun das gerade unmoralisch vorkommt, – was dann? Ihm sage ich es natürlich nicht, er redet mich ja in Grund und Boden mit seiner plastischen Mundart und sagt: ›Ich warne Sie, Ingenieur!‹ Aber denken dürfen wird man sich ja sein Teil, – Sire, geben Sie Gedankenfreiheit. Ich will dir was sagen«, schloß er. (Sie waren in Joachims Zimmer hinaufgelangt, und Joachim machte sich zum Liegen bereit.) »Ich werde dir sagen, was ich mir vorgenommen habe. Man lebt hier so Tür an Tür mit sterbenden Leuten und mit dem schwersten Kreuz und Jammer, aber nicht allein, daß man so tut, als ob es einen nichts anginge, sondern man wird auch geschont und geschützt, daß man nur ja nicht damit in Berührung kommt und nichts davon sieht, und den Herrenreiter, den werden sie nun auch wieder heimlich auf die Seite bringen, während wir vespern oder frühstücken. Das finde ich unmoralisch. Die Stöhr wurde ja schon wütend, weil ich den Todesfall nur erwähnte, das ist mir zu albern, und wenn sie schon ungebildet ist und glaubt, daß ›Leise, leise, fromme Weise‹ im ›Tannhäuser‹ vorkommt, wie es ihr neulich bei Tische {448} passierte, so könnte sie dabei doch etwas moralischer empfinden, und die anderen auch. Ich habe mir nun vorgenommen, mich in Zukunft etwas mehr um die Schweren und Moribunden im Hause zu kümmern, das wird mir wohltun, – schon unser Besuch eben hat mir gewissermaßen gut getan. Der arme Reuter damals, auf Nr. 25, den ich in meinen ersten Tagen durch die Tür einmal sah, ist gewiß schon längst ad penates gegangen und heimlich auf die Seite gebracht worden, – er hatte schon damals so übertrieben große Augen. Aber dafür sind andere da, das Haus ist voll, es fehlt nie an Zuzug, und Schwester Alfreda oder auch die Oberin oder sogar Behrens selbst werden uns gewiß behilflich sein, eine oder die andere Beziehung herzustellen, das wird sich ja unschwer machen lassen. Nimm an, jemand Moribundes hat Geburtstag, und wir erfahren es, – das läßt sich ja in Erfahrung bringen. Gut, wir schicken dem Betreffenden – oder ihr – ihm oder ihr, je nachdem – einen Blumentopf aufs Zimmer, eine Aufmerksamkeit von zwei ungenannten Kollegen, – beste Genesungswünsche, – das Wort Genesung bleibt höflicherweise immer am Platz. Dann werden wir dem Betreffenden natürlich doch genannt, und er oder sie läßt uns in ihrer Schwäche einen freundlichen Gruß durch die Tür sagen, und vielleicht lädt sie uns auf einen Augenblick ins Zimmer ein, und wir wechseln noch ein paar menschliche Worte mit ihm, bevor er sich auflöst. So denke ich es mir. Bist du nicht einverstanden? Für mein Teil hab ichs mir jedenfalls vorgenommen.«
Joachim hatte gegen diese Absichten denn auch nicht viel zu erinnern. »Es ist gegen die Hausordnung,« sagte er; »du durchbrichst sie gewissermaßen damit. Aber ausnahmsweise, und wenn du nun einmal den Wunsch hast, wird Behrens dir wohl Permeß geben, denke ich. Du kannst dich ja auf dein medizinisches Interesse berufen.«
»Ja, unter anderem darauf«, sagte Hans Castorp; denn wirk {449} lich waren es verschlungene Motive, aus denen sein Wunsch erwuchs. Der Protest gegen den obwaltenden Egoismus war nur eines davon. Was mitsprach, war namentlich auch das Bedürfnis seines Geistes, Leiden und Tod ernst nehmen und achten zu dürfen, – ein Bedürfnis, für das er sich von der Annäherung an die Schweren und Sterbenden Genugtuung und Stärkung erhoffte, als Gegengewicht gegen vielfache Beleidigungen, denen er es sonst auf Schritt und Tritt, alltäglich und stündlich ausgesetzt fand, und durch die gewisse Urteile Settembrinis eine ihn kränkende Bekräftigung erfuhren. Beispiele bieten sich nur zu zahlreich an; hätte man Hans Castorp gefragt, er wäre vielleicht zuerst auf solche Personen im Hause »Berghof« zu sprechen gekommen, die
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