Der Zauberberg
errichtet, wohin die Abfahrt eines jeden Gefährts vom Start telephonisch gemeldet wurde. Zwischen den vereisten Schneebarrieren, auf den metallisch glänzenden Kurven der Bahn steuerten die flachen Gerüste, bemannt mit Männern und Frauen in weißer Wolle, Schärpen in allerlei Landesfarben um die Brust, einzeln, in größeren Abständen, aus der Höhe daher. Man sah rote, angestrengte Gesichter, in die es hineinschneite. Stürze, Schlitten, die aneckten, sich überschlugen und ihre Mannschaft in den Schnee entleerten, wurden vom Publikum photographiert. Musik spielte auch hier. Die Zuschauer saßen auf kleinen Tribünen oder schoben sich auf dem schmalen Gehpfade hin, der neben der Bahn geschaufelt war. Holzbrükken, über die er später führte, die die Bahn überspannten, und unter denen von Zeit zu Zeit ein konkurrierender Bobsleigh dahinsauste, waren ebenfalls mit Menschen besetzt. Die Leichen des Sanatoriums droben nahmen den gleichen Weg, im Saus unter den Brücken dahin, die Kurven hinab, zu Tale, zu Tale, dachte Hans Castorp und sprach auch davon.
Selbst ins Bioskop-Theater von »Platz« führten sie Karen Karstedt eines Nachmittags, da sie das alles so sehr genoß. In der schlechten Luft, die alle drei physisch stark befremdete, da sie nur das Reinste gewohnt waren, sich ihnen schwer auf die Brust legte und einen trüben Nebel in ihren Köpfen erzeugte, flirrte eine Menge Leben, kleingehackt, kurzweilig und beeilt, in aufspringender, zappelnd verweilender und wegzuckender Unruhe, zu einer kleinen Musik, die ihre gegenwärtige Zeitgliederung auf die Erscheinungsflucht der Vergangenheit anwandte und bei beschränkten Mitteln alle Register der Feierlichkeit und des Pompes, der Leidenschaft, Wildheit und girrenden Sinnlichkeit zu ziehen wußte, auf der Leinwand vor ihren {480} schmerzenden Augen vorüber. Es war eine aufgeregte Liebes- und Mordgeschichte, die sie sahen, stumm sich abhaspelnd am Hofe eines orientalischen Despoten, gejagte Vorgänge voll Pracht und Nacktheit, voll Herrscherbrunst und religiöser Wut der Unterwürfigkeit, voll Grausamkeit, Begierde, tödlicher Lust und von verweilender Anschaulichkeit, wenn es die Muskulatur von Henkersarmen zu besichtigen galt, – kurz, hergestellt aus sympathetischer Vertrautheit mit den geheimen Wünschen der zuschauenden internationalen Zivilisation. Settembrini, als Mann des Urteils, hätte die humanitätswidrige Darbietung wohl scharf verneinen, mit gerader und klassischer Ironie den Mißbrauch der Technik zur Belebung so menschenverächterischer Vorstellungen geißeln müssen, dachte sich Hans Castorp und flüsterte dergleichen seinem Vetter auch zu. Frau Stöhr dagegen, die ebenfalls anwesend war und nicht weit von den Dreien saß, erschien ganz Hingabe; ihr rotes, ungebildetes Gesicht war im Genusse verzerrt.
Übrigens verhielt es sich ähnlich mit allen Gesichtern, in die man blickte. Wenn aber das letzte Flimmerbild einer Szenenfolge wegzuckte, im Saale das Licht aufging und das Feld der Visionen als leere Tafel vor der Menge stand, so konnte es nicht einmal Beifall geben. Niemand war da, dem man durch Applaus hätte danken, den man für seine Kunstleistung hätte hervorrufen können. Die Schauspieler, die sich zu dem Spiele, das man genossen, zusammengefunden, waren längst in alle Winde zerstoben; nur die Schattenbilder ihrer Produktion hatte man gesehen, Millionen Bilder und kürzeste Fixierungen, in die man ihr Handeln aufnehmend zerlegt hatte, um es beliebig oft, zu rasch blinzelndem Ablauf, dem Elemente der Zeit zurückzugeben. Das Schweigen der Menge nach der Illusion hatte etwas Nervloses und Widerwärtiges. Die Hände lagen ohnmächtig vor dem Nichts. Man rieb sich die Augen, stierte vor sich hin, schämte sich der Helligkeit und verlangte zurück ins {481} Dunkel, um wieder zu schauen, um Dinge, die ihre Zeit gehabt, in frische Zeit verpflanzt und aufgeschminkt mit Musik, sich wieder begeben zu sehen.
Der Despot starb unter dem Messer, mit einem Gebrüll aus offenem Munde, das man nicht hörte. Man sah dann Bilder aus aller Welt: den Präsidenten der französischen Republik in Zylinder und Großkordon, vom Sitze des Landauers auf eine Begrüßungsansprache erwidernd; den Vizekönig von Indien bei der Hochzeit eines Radscha; den deutschen Kronprinzen auf einem Kasernenhofe zu Potsdam. Man sah das Leben und Treiben in einem Eingeborenendorf von Neumecklenburg, einen Hahnenkampf auf Borneo, nackte Wilde, die auf Nasenflöten bliesen, das
Weitere Kostenlose Bücher