Der Zauberberg
bedeutete ihm der Verkehr mit der armen Karen eine Art von Ersatz- und unbestimmt förderlichem Hilfsmittel, wie alle seine charitativen Unternehmungen ihm dergleichen bedeuteten. Aber zugleich waren sie doch auch Zweck ihrer selbst, diese frommen Unternehmungen, und die Zufriedenheit, die er empfand, wenn er die bresthafte Mallinckrodt mit Brei fütterte, sich von Herrn Ferge den infernalischen Pleurachok beschreiben ließ oder die arme Karen vor Freude und Dankbarkeit in die Hände mit den verpflasterten Fingerspitzen klatschen sah, war, wenn auch von übertragener und beziehungsvoller, so doch zugleich auch von unmittelbarer und reiner Art; sie entstammte einem Bildungsgeiste, entgegengesetzt demjenigen, den Herr Settembrini pädagogisch vertrat, indessen wohl wert, das Placet {484} experiri darauf anzuwenden, wie es dem jungen Hans Castorp schien.
Das Häuschen, worin Karen Karstedt wohnte, lag unweit des Wasserlaufs und des Bahngeleises an dem gegen »Dorf« führenden Wege, und so hatten die Vettern es bequem, sie abzuholen, wenn sie sie nach dem Frühstück auf ihren dienstlichen Lustwandel mitnehmen wollten. Gingen sie so gegen »Dorf«, um die Hauptpromenade zu gewinnen, so sahen sie vor sich das kleine Schiahorn, dann weiter rechts drei Zinken, welche die Grünen Türme hießen, jetzt aber ebenfalls unter blendend besonntem Schnee lagen, und noch weiter rechts die Kuppe des Dorfberges. Auf Viertelhöhe seiner Wand sah man den Friedhof liegen, den Friedhof von »Dorf«, von einer Mauer umgeben und offenbar mit schönem Blick, vermutlich auf den See, weshalb er als Zielpunkt eines Spazierganges wohl ins Auge zu fassen war. Sie wanderten denn auch einmal hinauf, die drei, an einem schönen Vormittag, – und alle Tage waren nun schön: windstill und sonnig, tiefblau, heiß-frostig und glitzerweiß. Die Vettern, der eine ziegelrot im Gesicht, der andere bronziert, gingen im baren Anzug, da Mäntel lästig gewesen wären in diesem Sonnenprall, – der junge Ziemßen in Sportdreß mit Gummischneeschuhen, Hans Castorp gleichfalls in solchen, aber in langen Hosen, da er nicht körperlich genug gesinnt war, um kurze zu tragen. Es war zwischen Anfang und Mitte Februar, im neuen Jahre. Ganz recht, die Jahreszahl hatte gewechselt, seitdem Hans Castorp heraufgekommen; man schrieb eine andere jetzt, die nächste. Ein großer Zeiger der Weltzeitenuhr war um eine Einheit weiter gefallen: nicht gerade einer der allergrößten, nicht etwa der, welcher die Jahrtausende maß, – sehr wenige, die lebten, würden das noch erleben; auch der nicht, der die Jahrhunderte anmerkte oder nur die Jahrzehnte, das nicht. Der Jahreszeiger aber war kürzlich gefallen, obgleich Hans Castorp ja noch kein Jahr, sondern erst wenig mehr als ein halbes, {485} hier oben war, und stand nun fest nach Art der nur von fünf zu fünf Minuten fallenden Minutenzeiger gewisser großer Uhren, bis er wieder vorrücken würde. Bis dahin aber mußte der Monatszeiger noch zehnmal vorrücken, ein paarmal öfter, als er es getan, seitdem Hans Castorp hier oben war, – den Februar zählte er nicht mehr mit, denn angebrochen war abgetan, gleichwie gewechselt so gut wie ausgegeben.
Auch zu dem Friedhof am Dorfberge also gingen die drei einmal spazieren, – exakter Rechenschaft halber sei auch dieser Ausflug noch angeführt. Die Anregung dazu war von Hans Castorp ausgegangen, und Joachim hatte wohl anfangs der armen Karen wegen Bedenken gehabt, dann aber eingesehen und zugegeben, daß es zwecklos gewesen wäre, mit ihr Verstecken zu spielen und sie im Sinne der feigen Stöhr vor allem, was an den Exitus erinnerte, ängstlich zu bewahren. Karen Karstedt gab sich noch nicht den Selbsttäuschungen des letzten Stadiums hin, sondern wußte Bescheid, wie es mit ihr stand und was es mit der Nekrose ihrer Fingerspitzen auf sich hatte. Sie wußte ferner, daß ihre harten Verwandten vom Luxus des Heimtransportes kaum würden etwas wissen wollen, sondern daß ihr nach dem Exitus ein bescheidenes Plätzchen dort oben zum Quartier würde angewiesen werden. Und kurz, man konnte wohl finden, daß dieses Wanderziel moralisch passender für sie war, als manches andere, zum Beispiel der Bobstart oder das Kino, – wie es denn übrigens nicht mehr als ein anständiger Akt der Kameradschaft war, Denen dort oben einmal einen Besuch zu machen, gesetzt, daß man den Friedhof nicht einfach als Sehenswürdigkeit und neutrales Spaziergebiet betrachten wollte.
Im Gänsemarsch
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