Der Zauberberg
gingen sie langsam hinauf, denn der geschaufelte Pfad gestattete nur ein einzelnes Gehen, ließen die letzten, an der Lehne zuhöchst gelegenen Villen hinter und unter sich und sahen im Steigen das vertraute Landschaftsbild {486} in seiner Winterpracht sich wieder einmal perspektivisch ein wenig verschieben und öffnen: es weitete sich nach Nordost, gegen den Taleingang, der erwartete Blick auf den See tat sich auf, dessen umwaldetes Rund zugefroren und mit Schnee bedeckt war, und hinter seinem fernsten Ufer schienen Bergschrägen sich am Boden zu treffen, hinter denen fremde Gipfel, verschneit, einander vor dem Himmelsblau überhöhten. Sie sahen das an, im Schnee vor dem steinernen Tore stehend, das den Eingang zum Friedhof bildete, und betraten die Stätte dann durch die eiserne Gittertür, die dem Steintore eingefügt und nur angelehnt war.
Auch hier fanden sie Pfade geschaufelt, die zwischen den umgitterten, schneebepolsterten Gräbererhöhungen, diesen wohl und ebenmäßig aufgemachten Bettlagern mit ihren Kreuzen aus Stein und Metall, ihren kleinen, medaillon- und inschriftgeschmückten Monumenten dahinführten; doch ließ kein Mensch sich sehen noch hören. Die Stille, Abgeschiedenheit, Ungestörtheit des Ortes schien tief und heimlich in mancherlei Sinn; ein kleiner steinerner Engel oder Puttengott, der, eine Schneemütze etwas schief auf dem Köpfchen, irgendwo im Gebüsche stand und mit dem Finger die Lippen schloß, mochte wohl als sein Genius gelten, – will sagen: als der des Schweigens, und zwar eines Schweigens, das man sehr stark als Gegenteil und Widerspiel des Redens, als Verstummen also, keineswegs aber als inhaltsleer und ereignislos empfand. Für die beiden männlichen Gäste wäre es wohl eine Gelegenheit gewesen, die Hüte abzunehmen, wenn sie welche aufgehabt hätten. Aber sie waren ja barhaupt, auch Hans Castorp war es, und so gingen sie denn nur in ehrerbietiger Haltung, das Körpergewicht auf die Fußballen legend und gleichsam mit kleinen Verbeugungen nach rechts und links, im Gänsemarsch hinter Karen Karstedt her, die sie führte.
Der Friedhof war unregelmäßig in der Form, erstreckte sich {487} anfänglich als schmales Rechteck gegen Süden und lud dann ebenfalls rechteckig nach beiden Seiten aus. Ersichtlich hatte mehrfach Vergrößerung sich als notwendig erwiesen und war Acker angestückt worden. Trotzdem schien das Gehege auch gegenwärtig wieder so gut wie voll belegt, und zwar entlang der Mauer sowohl wie auch in seinen inneren, minder bevorzugten Teilen, – kaum war zu sehen und zu sagen, wo allenfalls noch ein Unterkommen darin gewesen wäre. Die drei Auswärtigen wanderten längere Zeit diskret in den schmalen Gehrinnen und Passagen zwischen den Mälern umher, indem sie dann und wann stehenblieben, um einen Namen nebst Geburts- und Sterbedatum zu entziffern. Die Denksteine und Kreuze waren anspruchslos, bekundeten wenig Aufwand. Was ihre Inschriften betraf, so stammten die Namen aus allen Winden und Welten, sie lauteten englisch, russisch oder doch allgemein slawisch, auch deutsch, portugiesisch und anderswie; die Daten aber trugen zartes Gepräge, ihre Spannweite war im ganzen auffallend gering, der Jahresabstand zwischen Geburt und Exitus betrug überall ungefähr zwanzig und nicht viel mehr, fast lauter Jugend und keine Tugend bevölkerte das Lager, ungefestigtes Volk, das sich aus aller Welt hier zusammengefunden hatte und zur horizontalen Daseinsform endgültig eingekehrt war.
Irgendwo tief im Gedränge der Ruhelager, im Inneren des Angers, gegen die Mitte zu, gab es ein flaches Plätzchen von Menschenlänge, eben und unbelegt, zwischen zwei aufgebetteten, um deren Steine Dauerkränze gehängt waren, und unwillkürlich blieben die drei Besucher davor stehen. Sie standen, das Fräulein etwas vor ihren Begleitern, und lasen die zarten Angaben der Steine, – Hans Castorp gelöst, die Hände vor sich gekreuzt, mit offenem Munde und schläfrigen Augen, der junge Ziemßen geschlossen und nicht nur gerade, sondern sogar ein wenig nach hinten abgeneigt, – worauf die Vettern mit {488} gleichzeitiger Neugier von den Seiten verstohlen in Karen Karstedts Miene blickten. Sie merkte es dennoch und stand da, verschämt und bescheiden, den Kopf ein wenig schräg vorgeschoben, und lächelte geziert mit gespitzten Lippen, wobei sie rasch mit den Augen blinzelte.
Walpurgisnacht
Sieben Monate waren es in den nächsten Tagen, daß der junge Hans Castorp hier oben verweilte,
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