Der Zauberberg
Engelhart ihm zugewandt, ihn gehindert hatte, das Gesicht mit den Händen zu bedecken; – und dann nachmittags 3 Uhr, bei ihrer Abreise, der er nicht eigentlich beigewohnt, sondern der er von einem Korridorfenster aus, das den Blick auf die Anfahrt gewährte, zugesehen hatte.
Der Vorgang hatte sich abgespielt, wie Hans Castorp ihn während seines Aufenthaltes hier oben schon manchmal sich hatte abspielen sehen: der Schlitten oder Wagen hielt an der Rampe, Kutscher und Hausknecht schnürten die Koffer auf, Sanatoriumsgäste, Freunde dessen, der, genesen oder nicht, um zu leben oder zu sterben, die Rückreise ins Flachland antrat, oder auch nur solche, die den Dienst schwänzten, um das Ereignis auf sich wirken zu lassen, versammelten sich vorm Portal; ein Herr im Gehrock von der Verwaltung, vielleicht sogar die Ärzte stellten sich ein, und dann kam der Abreisende heraus, – strahlenden Angesichtes meist und huldvoll die neugierig Umstehenden und Zurückbleibenden grüßend, mächtig belebt für den Augenblick durch das Abenteuer … Diesmal nun war es Frau Chauchat gewesen, die herausgekommen war, lächelnd, den Arm voller Blumen, in langem, rauhem, mit Pelz besetztem Reisemantel und großem Hut, begleitet von Herrn Buligin, ihrem konkaven Landsmann, der ein Stück Weges mit ihr reiste. Auch sie schien freudig erregt, wie jeder Abreisende es war, – nur durch den Lebenswechsel, ganz unabhängig davon, {527} ob man mit ärztlicher Einwilligung reiste oder nur aus verzweifeltem Überdruß, auf eigene Gefahr und mit schlechtem Gewissen den Aufenthalt unterbrach. Ihre Wangen waren gerötet, sie plauderte beständig, wahrscheinlich auf russisch, während man ihre Knie mit einer Pelzdecke umwickelte … Nicht nur Frau Chauchats Landsleute und Tischgenossen, sondern auch zahlreiche andere Gäste waren zur Stelle gewesen, Dr. Krokowski hatte kernig lächelnd seine gelben Zähne im Barte gezeigt, noch mehr Blumen hatte es gegeben, die Großtante hatte Konfekt, »Konfäktchen«, wie sie zu sagen pflegte, das heißt russische Marmelade, gespendet, die Lehrerin hatte dort gestanden, der Mannheimer, – dieser in einiger Entfernung, trübe spähend, und seine leidvollen Augen waren am Hause emporgeglitten, wo sie Hans Castorp am Korridorfenster gewahrt und trübe auf ihm verweilt hatten … Hofrat Behrens hatte sich nicht gezeigt; offenbar hatte er sich von der Reisenden schon bei anderer, privater Gelegenheit verabschiedet … Dann hatten unter dem Winken und Rufen der Umstehenden die Pferde angezogen, und auch Frau Chauchats schräge Augen hatten nun, während die Vorwärtsbewegung des Schlittens ein Zurücksinken ihres Oberkörpers gegen das Polster bewirkt hatte, noch einmal lächelnd die Front des Berghof-Hauses überflogen und während des Bruchteils einer Sekunde auf Hans Castorps Antlitz verweilt … Bleich war der Zurückbleibende auf sein Zimmer geeilt, in seine Loggia, um den Schlitten von hier aus noch einmal zu sehen, der mit Geklingel die Anfahrtstraße hinab gegen »Dorf« hingeglitten war, hatte sich dann in seinen Stuhl geworfen und aus der Brusttasche die Erinnerungsgabe gezogen, das Pfand, das diesmal nicht in bräunlichroten Holzschnitzeln, sondern in einem dünn gerahmten Plättchen, einer Glasplatte bestand, die man gegen das Licht halten mußte, um etwas an ihr zu finden, – Clawdias Innenporträt, das ohne Antlitz war, aber das zarte {528} Gebein ihres Oberkörpers, von den weichen Formen des Fleisches licht und geisterhaft umgeben, nebst den Organen der Brusthöhle erkennen ließ …
Wie oft hatte er es betrachtet und an die Lippen gedrückt in der Zeit, die seitdem verflossen war, indem sie Veränderung gezeitigt hatte! Gewöhnung zum Beispiel an ein Leben hier oben in räumlich weiter Abwesenheit Clawdia Chauchats hatte sie gezeitigt, und zwar geschwinder, als man hätte denken sollen: die hiesige Zeit war ja besonders danach geartet und außerdem zu dem Zwecke organisiert, Gewöhnung zu zeitigen, wenn auch nur Gewöhnung daran, daß man sich nicht gewöhnte. Der klirrende Knall zu Beginn der fünf übergewaltigen Mahlzeiten war nicht mehr zu gewärtigen und trat nicht mehr ein; anderswo, in ungeheuerer Entfernung, ließ Frau Chauchat nun Türen zufallen, – eine Wesensäußerung, die mit ihrem Dasein, ihrer Krankheit auf ähnliche Art vermengt und verbunden war wie die Zeit mit den Körpern im Raum: vielleicht
war
das ihre Krankheit, und nichts weiter … Aber war sie
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