Der Zauberberg
sie nicht sprachen, wovon Joachim aber zweifellos wußte, etwas wie Verrat, Desertion und Treulosigkeit sehen, und zwar in Hinsicht auf ein Paar runder brauner Augen, eine schwach begründete Lachlust und ein Apfelsinenparfüm, deren Einwirkungen er täglich fünfmal ausgesetzt war, vor denen er aber streng und anständig seine Augen auf den Teller niederschlug … Ja, noch in dem stillen Widerstreben, mit dem Joachim seinen Spekulationen und Aspekten über die »Zeit« begegnete, glaubte Hans Castorp etwas von dieser militärischen Sittsamkeit, die einen Vorwurf für sein Gewissen enthielt, zu spüren. Was aber das Tal, das dick verschneite Wintertal betraf, an das Hans Castorp von seinem vorzüglichen Liegestuhle aus ebenfalls seine übersinnlichen Fragen richtete, so standen seine Zinken, Kuppen, Wandlinien und braun-grün-rötlichen Wälder schweigend in der Zeit, umwoben von still fließender Erdenzeit bald leuchtend im tiefen Himmelsblau, bald qualmverhüllt, bald rötlich angeglüht in der Höhe von scheidender Sonne, bald diamanthart glitzernd in Mondnachtzauber, – aber immer im Schnee, seit sechs undenklichen, wenn auch huschartig vergangenen Monaten, und alle Gäste erklärten, sie könnten den Schnee nicht mehr sehen, er widere sie, schon der Sommer habe ihren Ansprüchen in dieser Richtung genügt, aber nun Schneemassen tagein, tagaus, Schneehaufen, Schneepolster, Schneehänge, das gehe über Menschenkraft, sei Mord für Geist und Gemüt. Und sie setzten farbige Brillen auf, grüne, gelbe und rote, wohl auch um die Augen zu schonen, doch mehr noch fürs Herz.
Tal und Berge im Schnee seit sechs Monaten schon? Seit sieben! Die Zeit schreitet fort, während wir erzählen, –
unsere
Zeit, die wir dieser Erzählung widmen, aber auch die tief vergangene Zeit Hans Castorps und seiner Schicksalsgenossen dort oben im Schnee, und sie zeitigt Veränderungen. Alles war auf dem besten Wege, sich zu erfüllen, wie Hans Castorp es am {525} Faschingstage auf dem Heimwege von »Platz« zum Zorne Herrn Settembrinis mit raschen Worten vorweggenommen hatte: nicht gerade, daß schon die Sonnenwende in unmittelbarer Aussicht gewesen wäre, aber Ostern war durch das weiße Tal gezogen, der April schritt vor, der Blick auf Pfingsten war frei, bald würde der Frühling anbrechen, die Schneeschmelze, – nicht aller Schnee würde schmelzen, auf den Häuptern im Süden, in den Felsschründen der Rhätikonkette im Norden blieb immerdar welcher liegen, von dem zu schweigen, der auch allsommermonatlich einfallen, aber nicht liegen bleiben würde; doch unbedingt verhieß die Umwälzung des Jahres entscheidende Neuerungen binnen kurzem, denn seit jener Fastnacht, in der Hans Castorp sich von Frau Chauchat einen Bleistift geliehen, ihr später denselben auch wieder zurückgegeben und auf Wunsch etwas anderes dafür empfangen hatte, eine Erinnerungsgabe, die er in der Tasche trug, waren nun schon sechs Wochen verflossen, – doppelt so viele, als Hans Castorp ursprünglich hatte hier oben bleiben wollen.
Sechs Wochen verflossen in der Tat seit dem Abend, da Hans Castorp die Bekanntschaft Clawdia Chauchats gemacht hatte und dann so viel später auf sein Zimmer zurückgekehrt war, als der dienstfromme Joachim auf das seine; sechs Wochen seit dem folgenden Tage, der Frau Chauchats Abreise gebracht hatte, ihre Abreise für diesmal, ihre
vorläufige
Abreise nach Daghestan, ganz östlich über den Kaukasus hinaus. Daß diese Abreise vorläufiger Art, nur eine Abreise für diesmal sein solle, daß Frau Chauchat wiederzukehren beabsichtigte, – unbestimmt wann, aber daß sie einmal wiederkommen wolle oder auch müsse, des besaß Hans Castorp Versicherungen, direkte und mündliche, die nicht in dem mitgeteilten fremdsprachigen Dialog gefallen waren, sondern folglich in die unsererseits wortlose Zwischenzeit, während welcher wir den zeitgebundenen Fluß unserer Erzählung unterbrochen und nur sie, die {526} reine Zeit, haben walten lassen. Jedenfalls hatte der junge Mann jene Versicherungen und tröstlichen Zusagen erhalten, bevor er auf Nr. 34 zurückgekehrt war; denn am folgenden Tage hatte er kein Wort mehr mit Frau Chauchat gewechselt, sie kaum gesehen, sie zweimal von weitem gesehen: beim Mittagessen, als sie in blauem Tuchrock und weißer Wolljacke, unter dem Schmettern der Glastür und lieblich schleichend noch einmal zu Tische gegangen war, wobei ihm das Herz im Halse geschlagen und nur die scharfe Bewachung, die Fräulein
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