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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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der Vettern bei Naphta, dessen Verlauf wir hier festhielten. Seither waren demselben zwei oder drei weitere gefolgt, einer sogar in Abwesenheit Herrn Settembrinis; und auch sie lieferten dem jungen Hans Castorp Stoff zur Betrachtung, wenn er, indes das Hochgebild, genannt Homo Dei, seinem inneren Auge vorschwebte, an dem blaublühenden Ort seiner Zurückgezogenheit saß und »regierte«.

Jähzorn. Und noch etwas ganz Peinliches
    So kam der August, und glücklich war unter seinen ersten Tagen der Jahrestag von unseres Helden Ankunft bei uns hier oben vorübergeschlüpft. Nur gut, daß er vorüber war, – er hatte {622} dem jungen Hans Castorp etwas unangenehm vorgestanden. So war es die Regel. Der Tag der Ankunft war nicht beliebt, es wurde seiner unter den Voll- und Mehrjährigen nicht gedacht, und während doch sonst kein Vorwand zu Festivität und Becherklang unbenutzt blieb, die allgemeinen und großen Betonungen im Jahresrhythmus und –pulslauf durch möglichst viele private und irreguläre vermehrt und Geburtstage, Generaluntersuchungen, bevorstehende wilde oder echte Abreisen und dergleichen Anlässe mehr mit Schmaus und Pfropfenknall im Restaurant begangen wurden, – widmete man diesem Gedenktage nichts als Stillschweigen, ließ sich darüber hinweggleiten, vergaß auch wohl wirklich, auf ihn zu achten und durfte vertrauen, daß die andern ihn überhaupt nicht so genau im Sinne hatten. Auf Gliederung hielt man wohl; man beobachtete den Kalender, den Turnus, die äußere Wiederkehr. Aber die Zeit, die sich für den einzelnen mit dem Raum hier oben verband, die persönliche und individuelle Zeit also zu messen und zu zählen war Sache der Kurzfristigen und Anfänger; die Eingesessenen lobten sich in dieser Hinsicht das Ungemessene und Achtlos-Ewige, den Tag, der immer derselbe war, und einer setzte mit Zartgefühl beim anderen einen Wunsch voraus, den er selber hegte. Es hätte für ganz und gar ungeschickt und brutal gegolten, jemandem zu sagen, heut sei er drei Jahre hier, – das kam nicht vor. Frau Stöhr selbst, so weit es ihr sonst immer fehlen mochte, in diesem Punkt war sie taktfest und abgeschliffen, nie wäre ein solcher Verstoß ihr untergelaufen. Ihr Kranksein, der Fieberstand ihres Körpers war mit großer Unbildung verbunden, gewiß. Noch kürzlich hatte sie bei Tische von der »Affektation« ihrer Lungenspitzen gesprochen und, als das Gespräch auf historische Dinge gekommen war, erklärt, Geschichtszahlen seien nun einmal ihr »Ring des Polykrates«, was ebenfalls eine gewisse Erstarrung der Umsitzenden hervorgerufen hatte. Aber daß sie etwa im Februar den {623} jungen Ziemßen an sein Jubiläum hätte erinnern sollen, wäre undenkbar gewesen, obgleich sie wahrscheinlich daran gedacht hatte. Denn ihr unseliger Kopf war natürlich voll unnützer Daten und Dinge, und sie liebte es, anderen nachzurechnen; aber die Sitte hielt sie im Zaum.
    So denn auch an Hans Castorps Tage. Sie hatte ihm wohl beim Essen einmal bedeutlich zuzuzwinkern versucht, aber da er dem Zeichen mit leerer Miene begegnet war, hatte sie sich schleunig zurückgezogen. Auch Joachim hatte gegen den Vetter geschwiegen, und doch war er des Datums wohl eingedenk gewesen, an dem er den Zu-Besuch-Kommenden von Station »Dorf« abgeholt hatte. Aber Joachim, zum Reden von Natur schon nicht sehr geneigt, bei weitem nicht so, wie Hans Castorp es wenigstens hier oben geworden, von Humanisten und Rabulisten ihrer Bekanntschaft ganz zu schweigen, – Joachim hatte sich in letzter Zeit eine besondere und auffallende Schweigsamkeit angeeignet, nur Einsilbigkeiten kamen noch über seine Lippen, aber in seiner Miene arbeitete es. Es war klar, daß sich für ihn mit Station »Dorf« andere Vorstellungen verbanden als die des Abholens und der Ankunft … Er stand in regem Briefwechsel mit dem Flachlande. Entschlüsse reiften in ihm. Vorbereitungen, die er traf, näherten sich ihrem Abschluß.
    Der Juli war warm und heiter gewesen. Aber mit Anbruch des neuen Monats fiel schlechtes Wetter ein, trübe Nässe, Schneeregen, dann unzweideutiger Schneefall, und mit Einschaltung einzelner prangender Sommertage dauerte das an, über das Monatsende hin, in den September hinein. Anfangs hielten die Zimmer sich noch warm von der vorhergegangenen Sommerperiode; man hatte zehn Grad darin, das galt für behaglich. Aber rasch wurde es kälter und kälter, und man war froh über den Schnee, der das Tal bedeckte, denn sein Anblick – nur dieser, der

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