Der Zauberberg
dazu.«
»Ich sagte Ihnen ja, daß die Krankheit es war, die ihn vorläufig daran gehindert hat.«
»Gut, aber meinen Sie nicht: wenn er erstens Jesuit ist und zweitens ein Mann von Geist, mit Kombinationen – daß dies zweite, hinzukommende, mit der Krankheit zu tun hat?«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nein, nein, Herr Settembrini. Ich meine nur: er hat eine feuchte Stelle, und die hinderte ihn, Pater zu werden. Aber seine Kombinationen hätten ihn auch wohl daran gehindert, und insofern – gewissermaßen, gehören die Kombinationen und die feuchte Stelle zusammen. Er ist auf seine Art auch so was wie ein Sorgenkind des Lebens, ein joli jésuite mit einer petite tache humide.«
Sie hatten das Sanatorium erreicht. Auf der Plattform vorm Hause blieben sie noch etwas stehen, bevor sie sich trennten, traten zu einer kleinen Gruppe zusammen, während ein paar Patienten, die am Portal herumlungerten, ihrem Gespräche zusahen. Herr Settembrini sagte:
»Um es zu wiederholen, meine jungen Freunde, ich warne Sie. Ich kann Ihnen nicht verwehren, die einmal gemachte Bekanntschaft zu kultivieren, wenn die Neugier Sie dazu treibt. Aber wappnen Sie Herz und Geist dabei mit Mißtrauen, lassen Sie es niemals fehlen an kritischem Widerstand. Ich werde Ihnen diesen Mann mit einem Worte kennzeichnen. Er ist ein Wollüstiger.«
{620} Die Gesichter der Vettern verzogen sich. Dann fragte Hans Castorp:
»Ein … wie? Erlauben Sie, er ist doch Ordensmann. Da sind ja bestimmte Gelübde zu leisten, soviel ich weiß, und außerdem ist er so miekerig und leibarm …«
»Sie reden töricht, Ingenieur«, erwiderte Herr Settembrini. »Das hat mit Leibarmut gar nichts zu tun, und was die Gelübde betrifft, so gibt es da Vorbehalte. Ich sprach jedoch in einem weiteren und geistigeren Sinn, für den ich nachgerade Verständnis bei Ihnen sollte voraussetzen dürfen. Erinnern Sie sich wohl noch, wie ich Sie eines Tages auf Ihrem Zimmer besuchte – es ist lange her, furchtbar lange –, Sie absolvierten eben die Bettruhe nach erfolgter Aufnahme …«
»Selbstverständlich! Sie traten in der Dämmerung ein und machten Licht, ich weiß es wie heute …«
»Gut, damals kamen wir im Plaudern, wie es gottlob des öfteren geschieht, auf höhere Gegenstände. Ich glaube gar, wir sprachen von Tod und Leben, von den Würden des Todes, insofern er Bedingung und Zubehör des Lebens ist, und von der Fratzenhaftigkeit, der er verfällt, wenn der Geist ihn abscheulicherweise als Prinzip isoliert. Meine Herren!« fuhr Herr Settembrini fort, indem er dicht vor die beiden jungen Leute hintrat, Daumen und Mittelfinger der Linken gabelförmig gegen sie spreizte, gleichsam, um sie zur Aufmerksamkeit zusammenzufassen, und den Zeigefinger der Rechten mahnend erhob … »Prägen Sie sich ein, daß der Geist souverän ist, sein Wille ist frei, er bestimmt die sittliche Welt. Isoliert er dualistisch den Tod, so wird derselbe durch diesen geistigen Willen wirklich und in der Tat, actu, Sie verstehen mich, zur eigenen, dem Leben entgegengesetzten Macht, zum widersacherischen Prinzip, zur großen Verführung, und sein Reich ist das der Wollust. Sie fragen mich, warum der Wollust? Ich antworte Ihnen: weil er löst und erlöst, weil er die Erlösung ist, aber nicht {621} die Erlösung vom Übel, sondern die üble Erlösung. Er löst Sitte und Sittlichkeit, er erlöst von Zucht und Haltung, er macht frei zur Wollust. Wenn ich Sie warne vor dem Manne, dessen Bekanntschaft ich Ihnen ungern vermittelte, wenn ich Sie auffordere, im Verkehr und Diskurs mit ihm Ihre Herzen dreimal mit Kritik zu umgürten, so geschieht es, weil alle seine Gedanken wollüstiger Art sind, denn sie stehen unter dem Schutze des Todes, – einer höchst liederlichen Macht, wie ich Ihnen damals sagte, Ingenieur, – ich erinnere mich wohl meines Ausdrucks, ich behalte tüchtige und treffliche Äußerungen, die zu tun ich Gelegenheit fand, stets im Gedächtnis –, einer gegen Gesittung, Fortschritt, Arbeit und Leben gerichteten Macht, vor deren mephitischem Hauch junge Seelen zu schützen des Erziehers vornehmste Pflicht ist.«
Man konnte nicht besser sprechen als Herr Settembrini, nicht klarer und gerundeter. Hans Castorp und Joachim Ziemßen bedankten sich recht schön bei ihm für das Gehörte, empfahlen sich und erstiegen das Berghofportal, während Herr Settembrini, eine Treppe über Naphtas seidene Zelle hinaus, an sein Humanistenpult zurückkehrte.
Es war der erste Besuch
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