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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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aus dem Zivilpublikum? Sie wallen wohl mit?«
    {631} Das war Hans Castorp, der antworten sollte. Er stand da, ebenso bleich wie vor Jahresfrist bei jener Untersuchung, die seine Aufnahme herbeigeführt hatte, stand auf demselben Fleck wie damals, und wieder war deutlich das Pulsen seines Herzens gegen die Rippen zu sehen. Er sagte:
    »Ich möchte es von Ihrem Votum abhängig machen, Herr Hofrat.«
    »Meinem Votum. Schön!« Und er zog ihn am Arme an sich, horchte und klopfte. Er diktierte nicht. Es ging ziemlich schnell. Als er fertig war, sagte er:
    »Sie können reisen.«
    Hans Castorp stotterte:
    »Das heißt … wieso. Bin ich denn gesund?«
    »Ja, Sie sind gesund. Die Stelle links oben ist nicht mehr der Rede wert. Ihre Temperatur paßt nicht zu der Stelle. Woher sie kommt, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich nehme an, daß sie weiter nichts zu bedeuten hat. Meinetwegen können Sie reisen.«
    »Aber … Herr Hofrat … Das ist vielleicht im Augenblick nicht Ihr voller Ernst?«
    »Nicht mein Ernst? Wieso denn? Was denken Sie denn? Was denken Sie überhaupt so beiläufig von mir, möchte ich wissen? Wofür halten Sie mich? Für einen Hüttchenbesitzer?!«
    Es war Jähzorn. Die Bläue in des Hofrats Gesicht hatte sich ins Veilchenfarbene vertieft durch lodernden Zudrang, die einseitige Schürzung seiner Lippe mit dem Schnurrbärtchen sich heftig verstärkt, so daß die seitlichen Oberzähne sichtbar wurden, er schob den Kopf vor, wie ein Stier, seine Augen quollen tränend und blutig.
    »Das verbitte ich mir!« schrie er. »Ich bin erstens überhaupt kein Besitzer! Ich bin ein Angestellter hier! Ich bin Arzt! Ich bin
nur
Arzt, verstehen Sie mich?! Ich bin kein Kuppelonkel! Ich bin kein Signor Amoroso auf dem Toledo im schönen Neapel, {632} verstehen Sie mich wohl?! Ich bin ein Diener der leidenden Menschheit! Und sollten Sie sich eine andere Auffassung gebildet haben von meiner Person, dann können Sie beide zum Kuckuck gehen, in die Binsen oder vor die Hunde, ganz nach beliebiger Auswahl! Glückliche Reise!«
    Mit langen und breiten Schritten ging er zur Tür hinaus, durch die Tür, die ins Vorzimmer des Durchleuchtungsraumes führte, und ließ sie hinter sich zukrachen.
    Rat suchend blickten die Vettern auf Dr. Krokowski, der sich jedoch in seine Papiere vertieft und vergraben zeigte. Sie sputeten sich, in ihre Kleider zu kommen. Auf der Treppe sagte Hans Castorp:
    »Das war ja schrecklich. Hast du ihn schon mal so gesehen?«
    »Nein, so noch nicht. Das sind so Vorgesetzten-Anfälle. Das einzig Richtige ist, daß man sie in einwandfreier Haltung über sich ergehen läßt. Er war ja natürlich gereizt durch die Geschichte mit Polypraxios und der Nölting. Aber hast du gesehen,« fuhr Joachim fort, und man merkte, wie die Freude darüber, daß er seine Sache durchgefochten, in ihm aufstieg und ihm die Brust beengte, »hast du gesehen, wie er klein beigab und kapitulierte, als er einsah, daß es mein Ernst war? Man muß nur Schneid zeigen, sich nur nicht zudecken lassen. Nun habe ich sozusagen Erlaubnis, – er selbst hat gesagt, daß ich mich wahrscheinlich herausbeißen werde, – und über acht Tage reisen … in drei Wochen bin ich beim Regiment«, verbesserte er sich, indem er Hans Castorp aus dem Spiele ließ und seine freudebebende Aussage auf die eigene Person beschränkte.
    Hans Castorp schwieg. Er sagte nichts über Joachims »Erlaubnis«, noch über seine eigene, von der ja allenfalls auch zu reden gewesen wäre. Er machte Toilette zur Liegekur, steckte das Thermometer in den Mund, schlug mit kurzen und sicheren Griffen, mit voll ausgebildeter Kunst, jener geheiligten {633} Praktik gemäß, von der im Flachlande niemand eine Ahnung hatte, die beiden Kamelhaardecken um sich und lag dann still, als ebenmäßige Walze, auf seinem vorzüglichen Liegestuhl in der kalten Feuchte des Frühherbstnachmittags.
    Die Regenwolken hingen tief, die Phantasiefahne drunten war eingezogen, Schneereste lagen auf den nassen Zweigen der Edeltanne. Aus der unteren Liegehalle, von wo vor Jahr und Tag zuerst Herrn Albins Stimme an sein Ohr geschlagen, drang leises Gespräch zu dem Diensttuenden herauf, dessen Finger und Angesicht sich in Kürze naßkalt versteiften. Er war es gewohnt und wußte der hiesigen, ihm längst zur einzig denkbaren gewordenen Lebenshaltung Dank für die Gunst, in Geborgenheit liegen und alles bedenken zu dürfen.
    Es war entschieden, Joachim würde reisen. Radamanth hatte ihn entlassen, – nicht

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