Der Zauberberg
Übelbefinden nennen wollte, das sich aber aus Müdigkeit und Aufregung bei gleichzeitigen Hitze- und Frostgefühlen lästig zusammensetzte.
Zur Herbeiführung der unruhig erwünschten Unterredung mit Hofrat Behrens war der Dienstweg beschritten worden: Hans Castorp hatte beim Bademeister den Antrag gestellt und dieser ihn der Oberin weitergegeben, deren eigentümliche Bekanntschaft Konsul Tienappel bei dieser Gelegenheit machte, dergestalt, daß sie auf seinem Balkon erschien, wo sie ihn liegend fand und durch fremdartige Sitten die Wohlerzogenheit des hilflos walzenförmig Gewickelten stark in Anspruch nahm. Das geehrte Menschenskind, erfuhr er, möge sich gefälligst ein paar Tage gedulden, der Hofrat sei besetzt, Operationen, Generaluntersuchungen, die leidende Menschheit gehe vor, nach christlichen Grundsätzen, und da er ja angeblich gesund sei, so müsse er sich schon daran gewöhnen, daß er hier nicht Nummer Eins sei, sondern zurückstehen und warten müsse. Etwas anderes, wenn er etwa eine Untersuchung beantragen wolle, – worüber sie, Adriatica, sich weiter nicht wundern würde, er solle sie doch mal ansehen, so, Auge in Auge, die seinen seien etwas trübe und flackernd, und wie er da so vor ihr liege, sehe es alles in allem nicht viel anders aus, als ob auch mit ihm nicht alles so ganz in Ordnung sei, nicht so ganz
sauber
, er solle sie recht verstehen, – und ob es sich nun bei seinem Antrage um eine Untersuchung oder um eine Privatunterhaltung handle. – {657} Um letzteres, selbstvers-tändlich, um eine Privatunterhaltung! versicherte der Liegende. – Dann möge er warten, bis er Bescheid bekomme. Zu Privatunterhaltungen habe der Hofrat selten Zeit.
Kurz, alles ging anders, als James es sich gedacht hatte, und das Gespräch mit der Oberin hatte seinem Gleichgewicht einen nachhaltigen Stoß versetzt. Zu zivilisiert, um dem Neffen, dessen Einigkeit mit den Erscheinungen hier oben aus seiner unberührbaren Ruhe deutlich hervorging, unhöflicherweise zu sagen, wie abschreckend ihm das Frauenzimmer dünkte, klopfte er nur vorsichtig mit der Erkundigung bei ihm an, die Oberin sei wohl eine recht originelle Dame, – was Hans Castorp, nachdem er flüchtig prüfend in die Luft geblickt, ihm halbwegs zugab, indem er die Frage zurückgab, ob die Mylendonk ihm ein Thermometer verkauft habe. – »Nein, mir? Ist das ihre Branche?« entgegnete der Onkel … Aber das Schlimme war, wie deutlich aus seines Neffen Miene hervorging, daß er sich auch dann nicht gewundert haben würde, wenn geschehen wäre, wonach er fragte. »Uns friert nicht«, stand in dieser Miene geschrieben. Den Konsul aber fror, ihn fror andauernd bei heißem Kopfe, und er überlegte, daß, wenn die Oberin ihm tatsächlich ein Thermometer angeboten hätte, er es gewiß zurückgewiesen haben würde, daß dies aber am Ende nicht richtig gewesen wäre, da man ein fremdes, zum Beispiel das des Neffen, zivilisierterweise nicht benutzen konnte.
So vergingen einige Tage, vier oder fünf. Das Leben des Sendboten lief auf Schienen, – auf denen, die ihm gelegt waren, und daß es außerhalb ihrer laufen könne, schien keine Denkbarkeit. Der Konsul hatte seine Erlebnisse, gewann seine Eindrücke, – wir wollen ihn nicht weiter dabei belauschen. Er hob eines Tages in Hans Castorps Zimmer ein schwarzes Glasplättchen auf, das unter anderem kleinen Privatbesitz, womit der Inhaber sein reinliches Heim geschmückt, gestützt von einer geschnitz {658} ten Miniaturstaffelei, auf der Kommode stand und sich, gegen das Licht erhoben, als photographisches Negativ erwies. »Was ist denn das?« fragte der Onkel betrachtend … Er mochte wohl fragen! Das Porträt war ohne Kopf, es war das Skelett eines menschlichen Oberkörpers in nebelhafter Fleischeshülle, – ein weiblicher Torso übrigens, wie sich erkennen ließ. »Das? Ein Souvenir«, antwortete Hans Castorp. Worauf der Onkel »Pardon!« sagte, das Bildnis auf die Staffelei zurückstellte und sich rasch davon entfernte. Dies nur als Beispiel für seine Erlebnisse und Eindrücke in diesen vier oder fünf Tagen. Auch an einer Conférence des Dr. Krokowski nahm er teil, da es undenkbar war, sich davon auszuschließen. Und was die erstrebte Privatunterhaltung mit Hofrat Behrens betraf, so bekam er am sechsten Tage seinen Willen. Er wurde bestellt und stieg nach dem Frühstück, entschlossen, ein ernstes Wort mit dem Manne wegen seines Neffen und dessen Zeitverbrauchs zu reden, ins Souterrain
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