Der Zauberberg
was alles lief nicht nach seinem Erachten der Askese und dem Gottesreiche zuwider! Nicht nur die Anhänglichkeit an Familie und Heimat tat das, sondern auch {677} die an Gesundheit und Leben: sie eben machte er dem Humanisten zum Vorwurf, wenn dieser Frieden und Glück schalmeite; der Fleischesliebe, der amor carnalis, der Liebe zu den körperlichen Bequemlichkeiten, commodorum corporis, zieh er ihn zänkisch und nannte es ihm ins Gesicht hinein stockbürgerliche Irreligiosität, auf Leben und Gesundheit auch nur das geringste Gewicht zu legen.
Das war das große Kolloquium über Gesundheit und Krankheit, das sich eines Tages, schon stark gegen Weihnachten hin, während eines Schneespazierganges nach »Platz« und wieder zurück aus solchen Differenzen entwickelte, und alle nahmen sie daran teil: Settembrini, Naphta, Hans Castorp, Ferge und Wehsal, – leicht fiebernd sämtlich, zugleich betäubt und erregt vom Gehen und Reden im Höhenfrost, zum Zittern geneigt ohne Ausnahme und, ob sie sich nun mehr tätig verhielten, wie Naphta und Settembrini, oder meist aufnehmend und nur mit kurzen Einwürfen das Gespräch begleitend, alle mit so angelegentlichem Eifer, daß sie oft selbstvergessen halt machten, eine tief beschäftigte, gestikulierende und durcheinander sprechende Gruppe bildeten und die Passage versperrten, unbekümmert um fremde Leute, die einen Bogen um sie beschreiben mußten und ebenfalls stehen blieben, das Ohr hinhielten und staunend ihren ausschweifenden Erörterungen lauschten.
Eigentlich war der Disput von Karen Karstedt ausgegangen, der armen Karen mit den offenen Fingerspitzen, die neulich gestorben war. Hans Castorp hatte nichts von ihrer plötzlichen Verschlechterung und ihrem Exitus gewußt; sonst hätte er gern an ihrem Begräbnis kameradschaftlich teilgenommen, – bei seiner eingestandenen Vorliebe für Begräbnisse überhaupt. Aber die ortsübliche Diskretion hatte gewollt, daß er zu spät von Karens Hintritt erfahren hatte, und daß sie schon in den Garten des Puttengottes mit der schiefen Schneemütze zu endgültig horizontaler Lage eingegangen war. Requiem aeter {678} nam … Er widmete ihrem Andenken einige freundliche Worte, was Herrn Settembrini darauf brachte, sich spöttisch über Hansens charitative Betätigung, seine Besuche bei Leila Gerngroß, dem geschäftlichen Rotbein, der überfüllten Zimmermann, dem prahlerischen Sohne Tous-les-deux’ und der qualvollen Natalie von Mallinckrodt zu äußern und noch nachträglich über die teueren Blumen sich aufzuhalten, mit denen der Ingenieur diesem ganzen trostlosen und ridikülen Gelichter Devotion erwiesen habe. Hans Castorp hatte darauf hingewiesen, daß die Empfänger seiner Aufmerksamkeiten, mit vorläufiger Ausnahme der Frau von Mallinckrodt und des Knaben Teddy, ja auch ganz ernstlich gestorben seien, worauf Settembrini fragte, ob das sie etwa respektabler mache. Es gebe aber doch etwas, entgegnete Hans Castorp, was man die christliche Reverenz vor dem Elend nennen könne. Und ehe Settembrini ihn zurechtweisen konnte, begann Naphta von frommen Ausschreitungen der Liebestätigkeit zu reden, die das Mittelalter gesehen, erstaunlichen Fällen von Fanatismus und Verzückung in der Krankenpflege: Königstöchter hatten die stinkenden Wunden Aussätziger geküßt, hatten sich geradezu mit Absicht an Leprosen angesteckt und die Schwären, die sie sich zugezogen, dann ihre Rosen genannt, hatten das Wasser ausgetrunken, womit sie Eiternde gewaschen, und danach erklärt, nie habe ihnen etwas so gut geschmeckt.
Settembrini tat, als müsse er sich erbrechen. Weniger das physisch Ekelhafte an diesen Bildern und Vorstellungen, sagte er, kehre ihm den Magen um, als vielmehr der monströse Irrsinn, der sich in einer solchen Auffassung von tätiger Menschenliebe bekunde. Und er richtete sich auf, gewann wieder heitere Würde, indem er von neuzeitlich fortgeschrittenen Formen der humanitären Fürsorge, siegreicher Zurückdrängung der Seuchen sprach und Hygiene, Sozialreform nebst den Taten der medizinischen Wissenschaft jenen Schrecknissen entgegenstellte.
{679} Mit diesen bürgerlich ehrbaren Dingen, antwortete Naphta, wäre den Jahrhunderten, die er soeben angezogen, aber wenig gedient gewesen und zwar beiden Teilen nicht: den Kranken und Elenden so wenig wie den Gesunden und Glücklichen, die nicht sowohl aus Mitleid, als um des eigenen Seelenheiles willen sich ihnen milde erwiesen hätten. Denn durch erfolgreiche Sozialreform wären
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