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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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nicht gesund, sondern krank und würden nicht, wie ein Gesunder, das heißt: mit Entsetzen und Reißaus, darauf reagieren, sondern die Erscheinung hinnehmen, als ob sie ganz in der Ordnung sei, und sich in eine Konversation mit ihr einlassen, wie das eben die Art der Halluzinanten sei; und zu glauben, für diese bedeute die Halluzination ein gesundes Schrecknis, das eben sei der Phantasiefehler, der dem Nichtkranken unterlaufe.
    Herr Settembrini sprach sehr drollig und plastisch von dem Vater in der Ecke. Alle mußten lachen, auch Ferge, obgleich er gekränkt war durch Geringschätzung seines infernalischen Abenteuers. Der Humanist seinerseits benutzte die erregte Laune, um die Nichtachtbarkeit der Halluzinanten und überhaupt aller pazzi des weiteren zu erörtern und zu vertreten: diese Leute, meinte er, ließen sich ganz unerlaubt viel durchgehen und hätten es öfters sehr wohl in der Hand, ihrer Tollheit zu steuern, wie er selbst bei gelegentlichen Besuchen in Narrenspitälern gesehen. Denn wenn der Arzt oder ein Frem {682} der auf der Schwelle erscheine, so stelle der Halluzinierende meist seine Grimassen, sein Reden und Fuchteln ein und benehme sich anständig, solange er sich beobachtet wisse, um sich hernach wieder gehen zu lassen. Denn ein Sichgehenlassen bedeute die Narrheit zweifellos in vielen Fällen, dergestalt, daß sie als Zuflucht vor großem Kummer und als Schutzmaßnahme einer schwachen Natur gegen überschwere Schicksalsschläge diene, die klaren Sinnes zu bestehen ein solcher Mensch sich nicht zumute. Da aber könnte sozusagen jeder kommen, und er, Settembrini, habe schon manchen Narren einzig und allein durch seinen Blick, dadurch, daß er seinen Flausen eine Haltung unerbittlicher Vernunft entgegengesetzt habe, wenigstens vorübergehend zur Klarheit angehalten …
    Naphta lachte höhnisch, während Hans Castorp beteuerte, Herrn Settembrini das Gesagte aufs Wort glauben zu wollen. Wenn er sich so vorstelle, wie dieser unter dem Schnurrbart gelächelt und den Schwachkopf mit unnachgiebiger Vernunft ins Auge gefaßt habe, so verstehe er wohl, wie der arme Kerl sich habe zusammennehmen und der Klarheit die Ehre geben müssen, wenn er natürlich auch wohl Herrn Settembrinis Erscheinen als höchst unwillkommene Störung empfunden haben werde … Aber auch Naphta hatte Irrenanstalten besucht, er entsann sich eines Aufenthaltes in dem »Unruhigen Hause« einer solchen, und da hatten Szenen und Bilder sich ihm dargeboten, vor welchen, du lieber Gott, Herrn Settembrinis vernunftvoller Blick und züchtiger Einfluß wohl kaum verfangen haben würde: Dantische Szenen, groteske Bilder des Grauens und der Qual: die nackten Irren im Dauerbade hockend, in allen Posen der Seelenangst und des Entsetzensstupors, einige in lautem Jammer schreiend, andere mit erhobenen Armen und klaffenden Mündern ein Gelächter ausstoßend, worin alle Ingredienzien der Hölle sich gemischt hatten …
    »Aha«, sagte Herr Ferge und erlaubte sich, sein eigenes Ge {683} lächter in Erinnerung zu bringen, das ihm beim Abschnappen entflohen war.
    Und kurz denn, Herrn Settembrinis unerbittliche Pädagogik hätte vollständig einpacken können vor den Gesichten des Unruhigen Hauses, auf welche der Schauder religiöser Ehrfurcht denn doch eine menschlichere Rückwirkung gewesen wäre, als jene hochnäsige Vernunftmoralisterei, die unser höchstleuchtender Sonnenritter und Vikarius Salomonis hier dem Wahnsinn entgegenzusetzen beliebte.
    Hans Castorp hatte keine Zeit, sich mit den Titeln zu beschäftigen, die Naphta Herrn Settembrini da wieder verlieh. Flüchtig nahm er sich vor, der Sache bei erster Gelegenheit auf den Grund zu gehen. Im Augenblick aber verzehrte das laufende Gespräch seine Aufmerksamkeit ganz; denn Naphta erörterte eben mit Schärfe die allgemeinen Tendenzen, die den Humanisten bestimmten, der Gesundheit grundsätzlich alle Ehre zu geben und die Krankheit tunlichst zu entehren und zu verkleinern, – in welcher Stellungnahme allerdings eine bemerkenswerte und fast löbliche Selbstentäußerung sich kundtat, da Herr Settembrini selbst ja krank war. Seine Haltung aber, die durch ihre ungemeine Würde nichts an Fehlerhaftigkeit einbüßte, ergab sich aus einer Achtung und Andacht vor dem Leibe, die gerechtfertigt doch nur gewesen wäre, wenn der Leib sich noch in seinem gottesursprünglichen Zustande, statt in dem der Erniedrigung – in statu degradationis – befunden hätte. Denn unsterblich erschaffen, war er

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