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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Wälder und Weideland, ein halbes Dutzend Spielplätze, landwirtschaftliche Gebäude, Ställe für Hunderte von Kühen. Das Institut war zugleich Pensionat, Mustergut, Sportakademie, Gelehrtenschule und Musentempel; denn beständig gab es Theater und Musik. Das Leben hier war herrschaftlich-klösterlich. Mit seiner Zucht und Eleganz, seiner heiteren Gedämpftheit, seiner Geistigkeit und Wohlgepflegtheit, der Genauigkeit seiner abwechslungsreichen Tageseinteilung schmeichelte es Leos tiefsten Instinkten. Er war überglücklich. Er erhielt seine vortrefflichen Mahlzeiten in einem weiten Refektorium, wo Schweigepflicht herrschte, wie auf den Gängen der Anstalt, und in dessen Mitte ein junger Präfekt auf hohem Katheder sitzend die Essenden mit Vorlesen unterhielt. Sein Eifer beim Unterricht war brennend, und trotz einer Brustschwäche bot er alles auf, um nachmittags bei Spiel und Sport seinen Mann zu stehen. Die Devotion, mit der er alltäglich die Frühmesse hörte und Sonntags am feierlichen Amte teilnahm, mußte die Väter-Pädagogen erfreuen. Seine gesellschaftliche Haltung befriedigte sie nicht weniger. An Festtagen, nachmittags, nach dem Genuß von Kuchen und Wein, ging er in grau und grüner Uniform, mit Stehkragen, Hosenstreifen und Käppi, in Reihe und Glied spazieren.
    Dankbares Entzücken erfüllte ihn angesichts der Schonung, die seiner Herkunft, seinem jungen Christentum, seinen persönlichen Verhältnissen überhaupt zuteil wurde. Daß es ein Freiplatz war, den er in der Anstalt einnahm, schien niemand zu wissen. Die Hausgesetze lenkten die Aufmerksamkeit seiner Kameraden von der Tatsache ab, daß er ohne Familienanhang, ohne Heimat war. Das Empfangen von Paketen mit Lebensmitteln und Leckereien war allgemein verboten. Was etwa dennoch kam, wurde verteilt, und auch Leo erhielt davon. Der {671} Kosmopolitismus der Anstalt verhinderte jedes auffällige Hervortreten seines Rassengepräges. Es waren da junge Exoten, portugiesische Südamerikaner, die »jüdischer« aussahen als er, und so kam dieser Begriff abhanden. Der äthiopische Prinz, der gleichzeitig mit Naphta Aufnahme gefunden hatte, war sogar ein wolliger Mohrentyp, dabei aber sehr vornehm.
    In der Rhetorischen Klasse gab Leo den Wunsch zu erkennen, Theologie zu studieren, um, wenn er irgend würdig befunden werde, dereinst dem Orden anzugehören. Dies hatte zur Folge, daß man seinen Freiplatz aus dem »Zweiten Pensionat«, dessen Kosten und Lebenshaltung bescheidener waren, in das »Erste« verlegte. Bei Tische wurde ihm nun von Dienern serviert, und sein Schlafabteil stieß einerseits an das eines schlesischen Grafen von Harbuval und Chamaré, andererseits an das eines Marquis di Rangoni-Santacroce aus Modena. Er absolvierte glänzend und vertauschte, getreu seinem Entschluß, das Zöglingsleben des Pädagogiums mit dem des Noviziathauses im benachbarten Tisis, einem Leben dienender Demut, schweigender Unterordnung und religiösen Trainings, dem er geistige Lüste im Sinne früher fanatischer Konzeptionen abgewann.
    Unterdessen aber litt seine Gesundheit – und zwar weniger unmittelbar, durch die Strenge des Prüflingslebens, in dem es an körperlicher Erfrischung nicht fehlte, als von innen her. Die Erziehungspraktiken, deren Gegenstand er war, kamen in ihrer Klugheit und Spitzfindigkeit seinen persönlichen Anlagen entgegen und forderten sie zugleich heraus. Bei den geistigen Operationen, mit denen er seine Tage und noch einen Teil seiner Nächte verbrachte, bei all diesen Gewissenserforschungen, Betrachtungen, Erwägungen und Beschauungen verstrickte er sich mit boshaft querulierender Leidenschaft in tausend Schwierigkeiten, Widersprüche und Streitfälle. Er war die Verzweiflung – wenn auch zugleich die große Hoffnung – seines Exerzitienleiters, dem er mit seiner dialektischen Wut und {672} seinem Mangel an Einfalt alltäglich die Hölle heiß machte. »Ad haec quid tu?« fragte er mit funkelnden Brillengläsern … Und dem in die Enge getriebenen Pater blieb nichts übrig, als ihn zum Gebet zu ermahnen, damit er zur Ruhe der Seele gelange – »ut in aliquem gradum quietis in anima perveniat«. Allein diese »Ruhe« bestand, wenn sie erreicht wurde, in einer vollständigen Abstumpfung des Eigenlebens und Abtötung zum bloßen Werkzeuge, einem geistigen Kirchhofsfrieden, dessen unheimliche äußere Merkmale Bruder Naphta in mancher hohl blikkenden Physiognomie seiner Umgebung studieren konnte, und die zu erreichen ihm nie gelingen

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