Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
diese des wichtigsten Rechtfertigungsmittels verlustig gegangen, jene aber ihres heiligen Standes beraubt worden. Darum habe dauernde Erhaltung von Armut und Krankheit im Interesse beider Parteien gelegen, und diese Auffassung bleibe solange möglich, als es möglich sei, den rein religiösen Gesichtspunkt festzuhalten.
    Ein schmutziger Gesichtspunkt, erklärte Settembrini, und eine Auffassung, deren Albernheit zu bekämpfen er sich beinahe zu gut sei. Denn die Idee vom »heiligen Stande« sowie das, was der Ingenieur unselbständigerweise über die »christliche Reverenz vor dem Elend« geäußert habe, sei ja Schwindel, beruhe auf Täuschung, fehlerhafter Einfühlung, einem psychologischen Schnitzer. Das Mitleid, das der Gesunde dem Kranken entgegenbringe und das er bis zur Ehrfurcht steigere, weil er sich gar nicht denken könne, wie er solche Leiden gegebenenfalls solle ertragen können, – dieses Mitleid sei in hohem Grade übertrieben, es komme dem Kranken gar nicht zu und sei insofern das Ergebnis eines Denk- und Phantasiefehlers, als der Gesunde seine eigene Art, zu erleben, dem Kranken unterschiebe und sich vorstelle, der Kranke sei gleichsam ein Gesunder, der die Qualen eines Kranken zu tragen habe, – was völlig irrtümlich sei. Der Kranke sei eben ein Kranker, mit der Natur und der modifizierten Erlebnisart eines solchen; die Krankheit richte sich ihren Mann schon so zu, daß sie miteinander auskommen könnten, es gebe da sensorische Herabminderungen, Ausfälle, Gnadennarkosen, geistige und moralische Anpassungs- und Erleichterungsmaßnahmen der Natur, die {680} der Gesunde naiver Weise in Rechnung zu stellen vergesse. Das beste Beispiel sei all dies Brustkrankengesindel hier oben mit seinem Leichtsinn, seiner Dummheit und Liederlichkeit, seinem Mangel an gutem Willen zur Gesundheit. Und kurz, wenn der mitleidig verehrende Gesunde nur selber krank sei und nicht mehr gesund, so werde er schon sehen, daß Kranksein allerdings ein Stand für sich sei, aber durchaus kein Ehrenstand, und daß er ihn viel zu ernst genommen habe.
    Hier begehrte Anton Karlowitsch Ferge auf und verteidigte den Pleurachok gegen Verunglimpfungen und Despektierlichkeiten. Wie, was, zu ernst genommen sein Pleurachok? Da danke er, und da müsse er bitten! Sein großer Kehlkopf und sein gutmütiger Schnurrbart wanderten auf und nieder, und er verbat sich jede Mißachtung dessen, was er damals durchgemacht. Er sei nur ein einfacher Mann, ein Versicherungsreisender, und alles Höhere liege ihm fern, – schon dieses Gespräch gehe weit über seinen Horizont. Aber wenn Herr Settembrini etwa zum Beispiel auch den Pleurachok mit einbeziehen wolle in das, was er gesagt habe, – diese Kitzelhölle mit dem Schwefelgestank und den drei farbigen Ohnmachten, – dann müsse er schon bitten und danke ergebenst. Denn da sei von Herabminderungen und Gnadennarkosen und Phantasiefehlern auch nicht eine Spur die Rede gewesen, sondern das sei die größte und krasseste Hundsfötterei unter der Sonne, und wer es nicht erfahren habe, wie er, der könne sich von solcher Gemeinheit überhaupt keine –
    Ei ja, ei ja! sagte Settembrini. Herrn Ferges Collaps werde ja immer großartiger, je länger es her sei, daß er ihn erlitten habe, und nachgerade trage er ihn wie einen Heiligenschein um den Kopf. Er, Settembrini, achte die Kranken wenig, die auf Bewunderung Anspruch erhöben. Er sei selber krank, und nicht leicht; aber ohne Affektation sei er eher geneigt, sich dessen zu schämen. Übrigens spreche er unpersönlich, philosophisch, {681} und was er über die Unterschiede in der Natur und Erlebnisart des Kranken und des Gesunden bemerkt habe, das habe schon Hand und Fuß, die Herren möchten nur einmal an die Geisteskrankheiten denken, an Halluzinationen zum Beispiel. Wenn einer seiner gegenwärtigen Begleiter, der Ingenieur etwa, oder Herr Wehsal, heute abend in der Dämmerung seinen verstorbenen Herrn Vater in einer Zimmerecke erblicken würde, der ihn ansähe und zu ihm spräche, – so wäre das für den betreffenden Herrn etwas schlechthin Ungeheuerliches, ein im höchsten Grade erschütterndes und verstörendes Erlebnis, das ihn an seinen Sinnen, seiner Vernunft irre machen und ihn bestimmen würde, alsbald das Zimmer zu räumen und sich in eine Nervenbehandlung zu geben. Oder etwa nicht? Aber der Scherz sei eben der, daß den Herren das gar nicht begegnen könne, da sie ja geistig gesund seien. Falls es ihnen aber begegnete, so wären sie

Weitere Kostenlose Bücher