Der Zauberberg
schon vier Wochen Bettlage waren, die er Joachim vor allem einmal aufbrummte: die seien nötig, um das Gröbste zu reparieren, zur neuen Akklimatisation und um seinen Wärmehaushalt vorläufig etwas zu regeln. Sich auf eine Befristung der Nachkur festlegen zu lassen, wußte er zu vermeiden. Frau Ziemßen, verständig, einsichtsvoll, durchaus nicht sanguinisch, brachte, fern von Joachims Lager, den Herbst, Oktober {762} etwa, als Entlassungstermin in Vorschlag, und Behrens stimmte ihr insofern zu, als er erklärte, um diese Zeit werde man jedenfalls weiter sein als gegenwärtig. Übrigens gefiel er ihr ausgezeichnet. Er war ritterlich, sagte »meine gnädigste Frau«, indem er sie mit seinen blutunterlaufenen Quellaugen mannentreu anblickte, und sprach so korpsstudentisch redensartlich, daß sie bei aller Betrübnis lachen mußte. »Ich weiß ihn in besten Händen«, sagte sie, und reiste acht Tage nach ihrer Ankunft nach Hamburg zurück, da von der Notwendigkeit irgendwelcher Pflege nicht ernstlich die Rede sein konnte und Joachim außerdem ja Verwandtengesellschaft hatte.
»Also, sei froh: im Herbst«, sagte Hans Castorp, wenn er auf Nr. 28 an seines Vetters Bette saß. »Der Alte hat sich doch einigermaßen gebunden; du kannst dich daran halten und damit rechnen. Oktober – das ist so die Zeit. Da gehen manche Leute nach Spanien, und du kehrst dann auch zu deiner bandera zurück, um dich über Gebühr auszuzeichnen …«
Sein täglich Geschäft war, Joachim zu trösten, namentlich darüber, daß dieser das große Kriegsspiel hier oben versäumen mußte, das in diesen Augusttagen begann, – denn das verwand er nicht und äußerte geradezu Selbstverachtung der gottverfluchten Schlappheit wegen, der er im letzten Augenblick unterlegen war.
»Rebellio carnis«, sagte Hans Castorp. »Was willst du da machen? Da kann der tapferste Offizier nichts machen, und sogar der heilige Antonius wußte ein Lied davon zu singen. In Gottes Namen, Manöver sind jedes Jahr, und dann kennst du doch die hiesige Zeit! Es ist ja gar keine, du bist nicht lange genug fort gewesen, um nicht ganz leicht wieder ins Tempo zu kommen, und eh du die Hand drehst, ist deine kleine Nachkur vorbei.«
Immerhin war die Auffrischung des Zeitsinnes, die Joachim durch das Leben im Flachlande erfahren hatte, zu bedeutend, als daß er sich vor den vier Wochen nicht hätte fürchten sollen. {763} Doch war man ihm vielfach behilflich, sie zurückzulegen; die Sympathie, die man allgemein seiner properen Natur entgegenbrachte, äußerte sich in Besuchen von nahe und ferner: Settembrini kam, war teilnehmend und charmant und redete Joachim, da er ihn immer schon »Leutnant« genannt hatte, nun »Capitano« an; auch Naphta sprach vor, und aus dem Hause selbst ließen sich nach und nach die alten Bekannten sehen, indem sie eine dienstfreie Viertelstunde benutzten, um sich an sein Bett zu setzen, das Wort von der kleinen Nachkur zu wiederholen und sich seine Schicksale erzählen zu lassen: die Damen Stöhr, Levi, Iltis und Kleefeld, die Herren Ferge, Wehsal und andere mehr. Einige brachten ihm sogar Blumen. Als die vier Wochen um waren, stand er auf, da sein Fieber so weit gedämpft war, daß er umhergehen konnte, und setzte sich im Speisesaal zu seinem Vetter, zwischen ihn und die Brauersgattin Frau Magnus, Herrn Magnus gegenüber, an den Eckplatz, den seinerzeit Onkel James und ein paar Tage lang auch Frau Ziemßen eingenommen hatten.
So lebten die jungen Leute denn wieder Seite an Seite wie ehedem; ja, damit das alte Bild noch vollständiger wieder erstehe, fiel ihm, da Mistreß Macdonald, das Bild ihres Knaben in Händen, den letzten Seufzer getan, auch sein angestammtes Zimmer, das neben Hans Castorps, wieder zu, selbstverständlich nach gründlicher Entkeimung durch H 2 CO. Eigentlich und gefühlsmäßig gesprochen, war es nun so, daß Joachim an Hans Castorps Seite lebte und nicht mehr umgekehrt: dieser war nun der Eingesessene, dessen Daseinsform der andere auf kurze Zeit und besuchsweise teilte. Denn den Oktobertermin bemühte sich Joachim steif und fest im Auge zu behalten, obgleich gewisse Punkte seines Zentralnervensystems sich nicht zu humanistischer Norm des Verhaltens wollten anhalten lassen und die kompensatorische Wärmeausgabe seiner Haut verhinderten.
{764} Auch ihre Besuche bei Settembrini und Naphta sowie die Spaziergänge mit diesen beiden feindlich Verbundenen nahmen sie wieder auf, und wenn A. K. Ferge und Ferdinand Wehsal sich
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