Der Zauberberg
beteiligten, was öfters geschah, so waren sie zu sechsen, und jene Widersacher im Geiste lieferten ihre unaufhörlichen Duelle, bei deren Vorführung wir irgendwelche Vollständigkeit nicht anstreben könnten, ohne uns ebenso ins Desperat-Unendliche zu verlieren, wie sie es täglich taten, vor einem stattlichen Publikum, wenn auch Hans Castorp seine arme Seele als Hauptgegenstand ihres dialektischen Wettstreites betrachten wollte. Von Naphta hatte er erfahren, daß Settembrini Freimaurer sei, – was keinen geringeren Eindruck auf ihn gemacht hatte als des Italieners Eröffnung über Naphtas jesuitische Herkunft und Versorgtheit. Wiederum war er phantastisch überrascht gewesen, zu hören, daß es im Ernst noch dergleichen gäbe und hatte den Terroristen mit Fleiß über den Ursprung und das Wesen dieser kuriosen Einrichtung ausgeholt, die in einigen Jahren ihr zweihundertjähriges Jubiläum würde begehen können. Wenn Settembrini über Naphtas geistiges Wesen hinter seinem Rücken, im Tone pathetischer Warnung und als von etwas Teuflischem sprach, so machte sich Naphta, hinter dem des anderen, über die Sphäre, die dieser vertrat, ohne Anstrengung lustig, indem er zu verstehen gab, daß es sich da um etwas recht Altmodisches und Rückständiges handle: um bürgerliche Aufklärung und eine Freigeisterei von vorgestern, welche nichts weiter sei, als armseliger Geisterspuk, sich aber der skurrilen Selbsttäuschung hingebe, noch immer revolutionären Lebens voll zu sein. Er sagte: »Was wollen Sie, schon sein Großvater war Carbonaro, zu deutsch also Köhler. Von ihm hat er den Köhlerglauben an die Vernunft, die Freiheit, den Menschheitsfortschritt und diese ganze Mottenkiste klassizistisch-bourgeoiser Tugendideologie … Sehen Sie, was die Welt verwirrt, ist das Mißverhältnis, das zwischen der Ge {765} schwindigkeit des Geistes und der ungeheuren Unbeholfenheit, Langsamkeit, Beharrungsträgheit und –kraft der Materie besteht. Man muß zugeben, daß dieses Mißverhältnis ausreichen würde, jede Interesselosigkeit des Geistes am Wirklichen zu entschuldigen, denn die Regel ist, daß die Fermente, die die Revolutionen der Wirklichkeit herbeiführen, ihm längst zum Ekel geworden sind. Tatsächlich ist toter Geist dem lebendigen widerwärtiger als irgendwelche Basalte, die wenigstens nicht den Anspruch erheben, Geist und Leben zu sein. Solche Basalte, Reste ehemaliger Wirklichkeiten, die der Geist so weit hinter sich gelassen hat, daß er sich weigert, den Begriff des Wirklichen überhaupt noch damit zu verbinden, erhalten sich träge fort und bewahren durch ihren plumpen und toten Fortbestand das Abgeschmackte leidigerweise davor, seiner Abgeschmacktheit inne zu werden. Ich spreche allgemein, aber Sie werden die Nutzanwendung auf jenen humanitären Freisinn zu ziehen wissen, der glaubt, sich gegen Herrschaft und Autorität noch immer in heroischem Stande zu befinden. Ach, und nun gar die Katastrophen, vermittelst deren er sich sein Leben beweisen möchte, die verspäteten und spektakulösen Triumphe, die er vorbereitet und die er eines Tages zu feiern träumt! Beim bloßen Gedanken daran könnte der lebendige Geist sich zu Tode langweilen, wüßte er nicht, daß in Wahrheit doch nur er aus solchen Katastrophen als Sieger und Nutznießer hervorgehen wird, – er, der Elemente des Alten in sich mit Zukünftigstem zu wahrer Revolution verschmilzt … Wie geht es Ihrem Vetter, Hans Castorp? Sie wissen, daß ich ihm viel Sympathie entgegenbringe.«
»Danke, Herr Naphta. Dem bringt wohl jedermann aufrichtige Sympathie entgegen, ein so braver Junge, wie er ja offensichtlich ist. Auch Herr Settembrini mag ihn ausgesprochen gern leiden, wenn er auch einen gewissen schwärmerischen Terrorismus, der in Joachims Stande liegt, natürlich mißbilli {766} gen muß. Da höre ich nun, daß er Logenbruder ist. Sehe einer an. Es berührt mich nachdenklich, das muß ich sagen. Es rückt mir seine Person in eine neue Beleuchtung und verdeutlicht mir manches. Ob er gelegentlich auch seine Füße in den rechten Winkel stellt und seinem Händedruck eine besondere Beschaffenheit verleiht? Ich habe nie etwas bemerkt …«
»Über solche Kindereien,« meinte Naphta, »ist unser guter Drei-Punkte-Bruder wohl hinaus. Ich nehme an, daß das Logenzeremoniell eine recht kümmerliche Anpassung an den nüchternen Staatsbürgergeist der Zeiten erfahren hat. Man würde sich des Rituals von ehedem wohl als eines unzivilen Hokuspokus
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