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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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vergangen war) und blickte endlich überhaupt nicht mehr auf, offenbar weil er Tränen in den Augen hatte.
    Das war Frau Ziemßens Meinung nun gewiß nicht gewesen. Eigentlich mehr anstandshalber hatte sie ein wenig gemäßigten Ernst herbeiführen wollen, unwissend, daß gerade das Mittlere und Gemäßigte hier ortsfremd und nur die Wahl zwischen Extremen gegeben war. Da sie den Sohn so gebrochen sah, schien sie selbst den Tränen nicht fern und war ihrem Neffen dankbar für seine Bemühungen, den Tieftraurigen wieder zu beleben. Ja, was den Personalbestand angehe, sagte er, so werde Joachim manches verändert und erneuert finden, anderes dagegen habe sich während seiner Abwesenheit schon wieder hergestellt und sei wie vordem. Die Großtante zum Beispiel mit Begleitung sei längst wieder da. Die Damen säßen, wie immer, am Tische der Stöhr. Marusja lache viel und herzlich.
    Joachim schwieg, Frau Ziemßen dagegen fand sich durch diese Worte an eine Begegnung erinnert und an Grüße, die auszurichten seien, ehe sie es vergesse, – die Begegnung mit {760} einer Dame, nicht unsympathisch, wenn auch alleinstehend und mit etwas gar zu ebenmäßigen Augenbrauen, die in München, wo man zwischen zwei Nachtfahrten einen Tag verbracht hatte, im Restaurant an ihren und Joachims Tisch herangetreten sei, um Joachim zu begrüßen. Eine ehemalige Mitpatientin, – Joachim möge ihr doch helfen …
    »Frau Chauchat«, sagte Joachim still. Sie halte sich zur Zeit in einem Kurort des Allgäus auf und wolle im Herbst nach Spanien gehen. Zum Winter werde sie dann wahrscheinlich wieder hierher kommen. Beste Grüße von ihr.
    Hans Castorp war kein Knabe mehr, er hatte Gewalt über die Gefäßnerven, die sein Gesicht hätten erblassen oder erröten lassen können. Er sagte:
    »Ach, die war das? Sieh an, da ist sie also wieder hinter dem Kaukasus hervorgekommen. Und nach Spanien will sie?«
    Die Dame hatte einen Ort in den Pyrenäen genannt. »Hübsche oder doch reizvolle Frau. Angenehme Stimme, angenehme Bewegungen. Aber freie Manieren, nachlässig«, sagte Frau Ziemßen. »Redet uns einfach an wie alte Freunde, fragt und erzählt, obgleich Joachim, wie ich höre, eigentlich nie ihre Bekanntschaft gemacht hat. Fremdartig.«
    »Das ist der Osten und die Krankheit«, erwiderte Hans Castorp. Mit Maßstäben der humanistischen Gesittung dürfe man da nicht herantreten, das sei verfehlt. Und da denke er nun darüber nach, daß Frau Chauchat also nach Spanien zu gehen beabsichtige. Hm. Spanien, das liege andererseits ebensoweit von der humanistischen Mitte ab, – nicht nach der weichen, sondern nach der harten Seite; es sei nicht Formlosigkeit, sondern Überform, der Tod als Form, sozusagen, nicht Todesauflösung, sondern Todesstrenge, schwarz, vornehm und blutig, Inquisition, gestärkte Halskrause, Loyola, Eskorial … Interessant, wie es Frau Chauchat in Spanien gefallen werde. Das Türenwerfen werde ihr dort wohl vergehen, und vielleicht kön {761} ne eine gewisse Kompensation der beiden außerhumanistischen Lager zum Menschlichen sich vollziehen. Es könne aber auch etwas recht boshaft Terroristisches zustande kommen, wenn der Osten nach Spanien gehe …
    Nein, er war nicht rot oder blaß geworden, aber der Eindruck, den die unverhofften Nachrichten über Frau Chauchat auf ihn gemacht, äußerte sich in Reden, auf die denn freilich nur betretenes Schweigen die Antwort sein konnte. Joachim war weniger erschrocken; er kannte des Vetters Scharfköpfigkeit hier oben von früher her. Aber in Frau Ziemßens Augen malte sich größte Bestürzung; sie verhielt sich nicht anders, als habe Hans Castorp grobe Unanständigkeiten geäußert, und hob nach einer peinlichen Pause die Tafel mit Worten taktvoller Vertuschung auf. Bevor man sich trennte, teilte Hans Castorp die Order des Hofrats mit, daß Joachim jedenfalls morgen im Bett bleiben solle, bis jener ihn untersucht habe. Das Weitere werde sich finden. Dann lagen die drei Verwandten bald in ihren offenen Zimmern in der Frische der Hochgebirgs-Sommernacht, – ein jeder mit seinen Gedanken, Hans Castorp vornehmlich mit dem an Frau Chauchats binnen Halbjahrsfrist zu erwartende Wiederkehr.
    Und so war denn der arme Joachim zu einer rätlich gewordenen kleinen Nachkur wieder in die Heimat eingerückt. Dies Wort von der kleinen Nachkur war offenbar die im Flachland ausgegebene Parole, und auch hier oben ließ man sie gelten. Selbst Hofrat Behrens nahm die Wendung an, obgleich es allein

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