Der Zauberberg
wir wissen es von der Oberin, die dabei war und den Sterbenden festhalten half. Es war so einer, der zu guter Letzt eine scheußliche Szene machte und absolut nicht sterben wollte. Da hat Behrens ihn angefahren: ›Stellen Sie sich gefälligst nicht so an!‹ hat er gesagt, und sofort ist der Patient still geworden und ist ganz ruhig gestorben.«
Hans Castorp schlug sich mit der Hand auf den Schenkel und warf sich gegen die Rückenlehne der Bank, indem er zum Himmel aufblickte.
»Na, höre mal, das ist doch stark!« rief er. »Fährt auf ihn los und sagt einfach zu ihm: ›Stellen Sie sich nicht so an!‹ Zu einem Sterbenden! Das ist doch stark! Ein Sterbender ist doch gewissermaßen ehrwürdig. Man kann ihn doch nicht so mir nichts, dir nichts … Ein Sterbender ist doch sozusagen heilig, sollte ich meinen!«
»Das will ich nicht leugnen«, sagte Joachim. »Aber wenn er sich nun doch dermaßen schlapp benimmt …«
»Nein!« beharrte Hans Castorp mit einer Heftigkeit, die zu dem Widerstand, den man ihm leistete, in keinem Verhältnis stand. »Das lasse ich mir nicht ausreden, daß ein Sterbender etwas Vornehmeres ist, als irgend so ein Lümmel, der herumgeht und lacht und Geld verdient und sich den Bauch vollschlägt! Das geht nicht –« und seine Stimme schwankte höchst sonderbar. »Das geht nicht, daß man ihn so mir nichts, dir nichts –« und seine Worte erstickten im Lachen, das ihn ergriff und ihn überwältigte, dem Lachen von gestern, einem tief heraufquellenden, leiberschütternden, grenzenlosen Geläch {88} ter, das ihm die Augen schloß und Tränen zwischen den Lidern hervorpreßte.
»Pst!« machte Joachim plötzlich. »Sei still!« flüsterte er und stieß den haltlos Lachenden heimlich in die Seite. Hans Castorp blickte in Tränen auf.
Auf dem Wege von links kam ein Fremder daher, ein zierlicher brünetter Herr mit schön gedrehtem schwarzen Schnurrbart und in hellkariertem Beinkleid, der, herangekommen, mit Joachim einen Morgengruß tauschte – der seine war präzis und wohllautend – und mit gekreuzten Füßen, auf seinen Stock gestützt, in anmutiger Haltung vor ihm stehen blieb.
Satana
Sein Alter wäre schwer zu schätzen gewesen, zwischen dreißig und vierzig mußte es wohl liegen, denn wenn auch seine Gesamterscheinung jugendlich wirkte, so war sein Haupthaar doch an den Schläfen schon silbrig durchsetzt und weiter oben merklich gelichtet: zwei kahle Buchten sprangen neben dem schmalen, spärlichen Scheitel ein und erhöhten die Stirn. Sein Anzug, diese weiten, hellgelblich karierten Hosen und ein flausartiger, zu langer Rock mit zwei Reihen Knöpfen und sehr großen Aufschlägen, war weit entfernt, Anspruch auf Eleganz zu erheben; auch zeigte sein rund umgebogener Stehkragen sich von häufiger Wäsche an den Kanten schon etwas aufgerauht, seine schwarze Krawatte war abgenutzt, und Manschetten trug er offenbar überhaupt nicht, – Hans Castorp erkannte es an der schlaffen Art, in der die Ärmel ihm um das Handgelenk hingen. Trotzdem sah er wohl, daß er einen Herrn vor sich habe; der gebildete Gesichtsausdruck des Fremden, seine freie, ja schöne Haltung ließen keinen Zweifel daran. Diese Mischung aber von Schäbigkeit und Anmut, schwarze Augen dazu und der weich geschwungene Schnurrbart, erinnerten Hans {89} Castorp sogleich an gewisse ausländische Musikanten, die zur Weihnachtszeit in den heimischen Höfen aufspielten und mit emporgerichteten Sammetaugen ihren Schlapphut hinhielten, damit man ihnen Zehnpfennigstücke aus den Fenstern hineinwürfe. »Ein Drehorgelmann!« dachte er. Und so wunderte er sich nicht über den Namen, den er zu hören bekam, als Joachim sich von der Bank erhob und in einiger Befangenheit vorstellte:
»Mein Vetter Castorp, – Herr Settembrini.«
Hans Castorp war ebenfalls zur Begrüßung aufgestanden, die Spuren seiner Heiterkeitsausschreitung noch im Gesicht. Aber der Italiener bat beide in höflichen Worten, sich nicht in ihrer Bequemlichkeit stören zu lassen und nötigte sie auf ihre Plätze zurück, während er selbst in seiner angenehmen Pose vor ihnen stehen blieb. Er lächelte, wie er da stand und die Vettern, namentlich aber Hans Castorp, betrachtete, und diese feine, etwas spöttische Vertiefung und Kräuselung seines einen Mundwinkels unter dem vollen Schnurrbart, dort, wo er sich in schöner Rundung aufwärts bog, war von eigentümlicher Wirkung, es hielt gewissermaßen zur Geistesklarheit und Wachsamkeit an und ernüchterte den
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