Der Zauberberg
trunkenen Hans Castorp im Augenblick, so daß er sich schämte. Settembrini sagte:
»Die Herren sind aufgeräumt, – mit Grund, mit Grund. Ein prächtiger Morgen! Der Himmel ist blau, die Sonne lacht –« und er hob mit einem leichten und gelungenen Schwung seines Armes die kleine, gelbliche Hand zum Himmel, während er zugleich einen schrägen, heiteren Blick ebenfalls dort hinaufsandte. »Man könnte in der Tat vergessen, wo man sich befindet.«
Er sprach ohne fremden Akzent, nur an der Genauigkeit seiner Lautbildung hätte man allenfalls den Ausländer erkennen können. Seine Lippen formten die Worte mit einer gewissen Lust. Man hörte ihn mit Vergnügen.
»Und der Herr hat eine angenehme Reise zu uns gehabt?« {90} wandte er sich an Hans Castorp … »Ist man schon im Besitz seines Urteils? Ich meine: hat die düstere Zeremonie der ersten Untersuchung schon stattgehabt?« – Hier hätte er schweigen und warten müssen, wenn es ihm darauf ankam, zu hören; denn er hatte seine Frage gestellt, und Hans Castorp schickte sich an, zu antworten. Aber der Fremde fragte gleich weiter: »Ist sie glimpflich verlaufen? Aus Ihrer Lachlust –« und er schwieg einen Augenblick, indes die Kräuselung seines Mundwinkels sich vertiefte, »lassen sich ungleichartige Schlüsse ziehen. Wieviel Monate haben unsere Minos und Radamanth Ihnen aufgebrummt?« – Das Wort »aufgebrummt« nahm sich in seinem Munde besonders drollig aus. – »Soll ich schätzen? Sechs? Oder gleich neun? Man ist ja nicht knauserig …«
Hans Castorp lachte erstaunt, wobei er sich zu erinnern suchte, wer Minos und Radamanth doch gleich noch gewesen seien. Er antwortete:
»Aber wieso. Nein, Sie sind im Irrtum, Herr Septem –«
»Settembrini«, verbesserte der Italiener klar und mit Schwung, indem er sich humoristisch verneigte.
»Herr Settembrini, – Verzeihung. Nein, also Sie irren. Ich bin gar nicht krank. Ich besuche nur meinen Vetter Ziemßen auf ein paar Wochen und will mich bei dieser Gelegenheit auch ein bißchen erholen –«
»Potztausend, Sie sind nicht von den Unsrigen? Sie sind gesund, Sie hospitieren hier nur, wie Odysseus im Schattenreich? Welche Kühnheit, hinab in die Tiefe zu steigen, wo Tote nichtig und sinnlos wohnen –«
»In die Tiefe, Herr Settembrini? Da muß ich doch bitten! Ich bin ja rund fünftausend Fuß hoch geklettert zu Ihnen herauf –«
»Das schien Ihnen nur so! Auf mein Wort, das war Täuschung«, sagte der Italiener mit einer entscheidenden Handbewegung. »Wir sind tief gesunkene Wesen, nicht wahr, Leutnant«, wandte er sich an Joachim, der sich über diese Anrede {91} nicht wenig freute, dies aber zu verbergen suchte und besonnen erwiderte:
»Wir sind wohl wirklich etwas versimpelt. Aber man kann sich schließlich wieder zusammenreißen.«
»Ja, Ihnen traue ich’s zu; Sie sind ein anständiger Mensch«, sagte Settembrini. »So, so, so«, sagte er dreimal mit scharfem S, indem er sich wieder gegen Hans Castorp wandte, und schnalzte dann ebensooft mit der Zunge leise am oberen Gaumen. »Sieh, sieh, sieh«, sagte er hierauf, ebenfalls dreimal und mit scharfem S-Laut, indem er dem Neuling so unverwandt ins Gesicht blickte, daß seine Augen in eine fixe und blinde Einstellung gerieten, und fuhr dann, seinen Blick wieder belebend, fort:
»Ganz freiwillig kommen Sie also herauf zu uns Heruntergekommenen und wollen uns einige Zeit das Vergnügen Ihrer Gesellschaft gönnen. Nun, das ist schön. Und welche Frist haben Sie in Aussicht genommen? Ich frage nicht fein. Aber es soll mich doch wundernehmen, zu hören, wieviel man sich zudiktiert, wenn man selbst zu bestimmen hat und nicht Radamanth!«
»Drei Wochen«, sagte Hans Castorp mit etwas eitler Leichtigkeit, da er merkte, daß er beneidet wurde.
»O dio, drei Wochen! Haben Sie gehört, Leutnant? Hat es nicht fast etwas Impertinentes, zu sagen: Ich komme auf drei Wochen hierher und reise dann wieder? Wir kennen das Wochenmaß nicht, mein Herr, wenn ich Sie belehren darf. Unsere kleinste Zeiteinheit ist der Monat. Wir rechnen im großen Stil, – das ist ein Vorrecht der Schatten. Wir haben noch andere, und sie sind alle von ähnlicher Qualität. Darf ich fragen, welchen Beruf Sie ausüben drunten im Leben – oder wohl richtiger: auf welchen Sie sich vorbereiten? Sie sehen, wir legen unserer Neugier keine Fesseln an. Auch die Neugier rechnen wir zu unseren Vorrechten.«
{92} »Bitte recht sehr«, sagte Hans Castorp. Und er gab Auskunft.
»Ein
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