Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
hatte sich im Musiksalon aufgehalten und kam heraus, um nach Joachim zu sehen: da fand er ihn vor dem Kachelkamin neben Marusjas Stuhl, – es war ein Schaukelstuhl, worin sie saß, und Joachim hielt ihn mit der Linken an der Rückenlehne nach hinten geneigt, so daß Marusja aus liegender Stellung mit ihren braunen Kugelaugen in sein Gesicht emporblickte, das er, leise und abgerissen sprechend, über das ihre beugte, während sie manchmal lächelnd und erregt-geringschätzig mit den Schultern zuckte.
    {804} Hans Castorp beeilte sich, zurückzutreten, nicht ohne wahrgenommen zu haben, daß noch andere Mitglieder der Gästeschaft auf die Szene, wie das zu gehen pflegte, ein belustigtes Auge hatten, – unbemerkt von Joachim, oder doch unbeachtet von ihm. Dieser Anblick: Joachim, im Gespräche rücksichtslos hingegeben an die hochbrüstige Marusja, mit der er so lange an ein und demselben Tisch gesessen, ohne ein einziges Wort mit ihr zu wechseln; vor deren Person und Existenz er mit strengem Ausdruck, vernünftig und ehrliebend, die Augen niedergeschlagen hatte, obgleich er fleckig erblaßte, wenn von ihr die Rede war, – erschütterte Hans Castorp mehr, als irgendein Zeichen der Entkräftung, das er in diesen Wochen sonst an seinem armen Vetter wahrgenommen. »Ja, er ist verloren!« dachte er und setzte sich still auf einen Stuhl im Musiksalon, um Joachim Zeit zu lassen für das, was er sich dort in der Halle an diesem letzten Abend noch gönnte.
    Von da an also nahm Joachim dauernd die Horizontale ein, und Hans Castorp schrieb davon an Luise Ziemßen, schrieb ihr in seinem vorzüglichen Liegestuhl, er habe nun seinen früheren gelegentlichen Mitteilungen hinzuzufügen, daß Joachim bettlägerig geworden sei und daß er zwar nichts gesagt habe, daß ihm aber der Wunsch, seine Mutter bei sich zu haben, von den Augen abzulesen sei, und daß Hofrat Behrens diesen unausgesprochenen Wunsch ausdrücklich unterstütze. Auch dies fügte er zart und deutlich hinzu. Und so war es denn kein Wunder, daß Frau Ziemßen die schnellsten Verkehrsmittel in Anspruch nahm, um zu ihrem Sohne zu stoßen: schon drei Tage nach Abgang dieses humanen Alarmbriefes traf sie ein, und Hans Castorp holte sie bei Schneegestöber im Schlitten von Station »Dorf« ab, – legte, auf dem Bahnsteige stehend, bevor das Züglein einfuhr, seine Miene zurecht, daß sie die Mutter nicht gleich zu sehr erschrecke, daß diese aber auch nichts Falsches, Munteres mit dem ersten Blick darin lese.
    {805} Wie oft mochten wohl solche Begrüßungen sich hier schon ereignet haben, wie oft dies Aufeinander-Zueilen unter dringlichem und angstvollem Forschen des dem Zuge Entstiegenen in den Augen dessen, der ihn in Empfang nahm! Frau Ziemßen erweckte den Eindruck, als sei sie von Hamburg hierher zu Fuße gelaufen. Erhitzten Gesichtes zog sie Hans Castorps Hand an ihre Brust und stellte, gewissermaßen scheu um sich blikkend, hastige und gleichsam geheime Fragen, denen er auswich, indem er ihr dankte, daß sie so rasch gekommen sei, – das sei famos, und wie mächtig werde ihr Joachim sich freuen. Tja, der liege nun leider vorderhand, es sei wegen der flüssigen Nahrung, die ja natürlich auf den Kräftezustand nicht ohne Einfluß sei. Aber da gebe es notfalls noch mancherlei Auskünfte, zum Beispiel die künstliche Ernährung. Übrigens werde sie ja selber sehen.
    Sie sah; und an ihrer Seite sah Hans Castorp. Bis zu diesem Augenblick waren ihm die Veränderungen, die sich in den letzten Wochen an Joachim vollzogen hatten, gar nicht so bemerklich geworden, – junge Leute haben ja nicht viel Blick für solche Dinge. Jetzt aber, neben der von außen kommenden Mutter, betrachtete er ihn gleichsam mit ihren Augen, als hätte er ihn lange nicht gesehen, und erkannte klar und deutlich, was zweifellos auch sie erkannte, was aber ganz gewiß am besten von allen dreien Joachim selber wußte, nämlich, daß er ein Moribundus war. Er hielt Frau Ziemßens Hand in der seinen, die ebenso gelb und abgezehrt war, wie sein Gesicht, von welchem, eben infolge der Abmagerung, seine Ohren, dieser leichte Kummer seiner guten Jahre, stärker als ehedem und in bedauerlich entstellendem Maße abstanden, das aber bis auf diesen Fehler und trotz seiner durch den Stempel des Leidens und durch den Ausdruck von Ernst und Strenge, ja Stolz, den es trug, eher noch männlich verschönt erschien, – obgleich seine Lippen mit dem schwarzen Bärtchen darüber jetzt gar zu voll {806} wirkten

Weitere Kostenlose Bücher