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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Castorp, als für den Erdmann selbst, dessen anständig verschwiegenes Wissen eigentlich recht akademischer Natur ist, geringen Wirklichkeitscharakter für ihn besitzt und im Grunde weniger seine Sache ist, als die der anderen. Tatsächlich ist unser Sterben mehr eine Angelegenheit der Weiterlebenden, als unserer selbst; denn ob wir es nun zu zitieren wissen oder nicht, so hat das Wort des witzigen Weisen jedenfalls volle seelische Gültigkeit, daß, solange wir sind, der Tod nicht ist, und daß, wenn der Tod ist, wir nicht sind; daß also zwischen uns und dem Tode gar keine reale Beziehung besteht und er ein Ding ist, das uns überhaupt nichts und nur allenfalls Welt und Natur etwas angeht, – weshalb denn auch alle Wesen ihm mit großer Ruhe, Gleichgültigkeit, Verantwortungslosigkeit und egoistischer Unschuld, entgegenblicken. Von dieser Unschuld und Verantwortungslosigkeit fand Hans Castorp viel in Joachims Wesen während dieser Wochen und verstand, daß jener zwar wisse, daß es ihm aber darum nicht schwer falle, über dies Wissen ein anständiges Schweigen zu beobachten, weil seine inneren Beziehungen {802} dazu nur locker und theoretisch waren oder, soweit sie praktisch in Betracht kamen, durch ein gesundes Schicklichkeitsgefühl geregelt und bestimmt wurden, das die Erörterung jenes Wissens ebensowenig zuließ wie diejenige so vieler anderer funktioneller Unanständigkeiten, deren das Leben sich bewußt und durch die es bedingt ist, die es aber nicht hindern, bienséance zu bewahren.
    So gingen sie und schwiegen über lebensunziemliche Angelegenheiten der Natur. Auch Joachims anfangs so bewegt und zornig geführte Klagen über das Versäumnis der Manöver, des militärischen Flachlanddienstes überhaupt waren verstummt. Warum aber kehrte statt dessen und trotz aller Unschuld so oft der Ausdruck trüber Scheu in seine sanften Augen zurück, – jene Unsicherheit, die der Oberin, wenn sie es noch einmal hätte darauf ankommen lassen, wahrscheinlich den Sieg gebracht haben würde? War es, weil er sich überäugig und hohlwangig wußte? – Denn so wurde er zusehends in diesen Wochen, viel mehr noch, als er es schon bei seiner Heimkehr vom Flachland gewesen war, und seine braune Gesichtsfarbe ward gelblich-lederner von Tag zu Tag. Als ob eine Umgebung ihm Grund zur Scham und Selbstverachtung gegeben hätte, die mit Herrn Albin auf nichts bedacht war, als darauf, die grenzenlosen Vorteile der Schande zu genießen. Wovor und vor wem also duckte und verbarg sich sein ehemals so offener Blick? Wie seltsam, die Lebensscham der Kreatur, die sich in ein Versteck schleicht, um zu verenden, – überzeugt, daß sie in der Natur draußen keinerlei Achtung und Pietät vor ihrem Leiden und Sterben zu gewärtigen hat, überzeugt hiervon mit Recht, da ja die Schar der schwingenfrohen Vögel den kranken Genossen nicht nur nicht ehrt, sondern ihn in Wut und Verachtung mit Schnabelhieben traktiert. Doch das ist gemeine Natur, und ein hochmenschliches Liebeserbarmen schwoll auf in Hans Castorps Brust, wenn er die dunkle Instinktscham in des armen {803} Joachims Augen sah. Er ging links von ihm, ausdrücklich tat er es; und da Joachim nun auch etwas unsicher zu Fuße wurde, so stützte er ihn wohl, wenn es einen kleinen Wiesenhang zu erklettern galt, indem er, die Sittensprödigkeit überwindend, den Arm um ihn legte, ja, vergaß noch nachher eine Weile, seinen Arm wieder von Joachims Schultern wegzutun, bis dieser ihn halb ärgerlich abschüttelte und sagte:
    »Na, du, was soll das. Es sieht ja betrunken aus, wie wir daherkommen.«
    Aber dann kam ein Augenblick, wo dem jungen Hans Castorp die Trübung von Joachims Blick noch in einem anderen Lichte erschien, und das war, als Joachim Order erhalten hatte, das Bett zu hüten, Anfang November, – der Schnee lag hoch. Damals nämlich war es ihm allzu schwer geworden, auch nur die Haschees und Breie sich zuzuführen, da jeder zweite Bissen ihm in die falsche Kehle geriet. Der Übergang zu ausschließlich flüssiger Nahrung war indiziert, und zugleich verordnete Behrens dauernde Bettruhe, der Kräfteersparnis wegen. Es war also am Vorabend von Joachims dauernder Bettlägerigkeit, am letzten Abend, da er noch auf den Füßen war, daß Hans ihn betraf, – ihn im Gespräch mit Marusja betraf, der grundlos viellachenden Marusja mit dem Apfelsinentüchlein und der äußerlich wohlgebildeten Brust. Nach dem Diner war das, während der Abendgeselligkeit, in der Halle. Hans Castorp

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