Der Zauberberg
bin ungewiß, ob Ihnen der Sinn dieses Wortes – ich würde vorschlagen, ›Herzstärkung‹ dafür einzusetzen, liefe hier nicht die neue Gefahr mit unter, es im Sinne gebräuchlicher Leichtfertigkeit – Er–ledigt, Rentia. Erledigt und ausgeschlossen. Vielmehr im Sinn unserer Pflicht und heiligen Verbindlichkeit – Zum Beispiel also der mir obliegenden Ehrenschuld, mich deiner charakteristischen Kleinheit so recht starken Herzens – Einen Genever, Geliebte! – Zu erfreuen, wollte ich sagen. Schiedamer, Emerenzchen. Eile und bringe mir einen!«
»Einen Genever, echt«, wiederholte die Zwergin, drehte sich einmal um sich selbst, in dem Wunsch, ihrer Kannen ledig zu werden, und stellte sie dann auf Hans Castorps Tisch, neben sein Besteck, offenbar, weil sie Herrn Peeperkorn nicht damit behelligen mochte. Sie eilte, und ihr Auftraggeber erhielt sofort das Gewünschte. Das Gläschen war so voll geschenkt, daß das »Brot« an allen Seiten daran herunterlief und den Teller benetzte. Er nahm es mit Daumen und Mittelfinger und hob es gegen das Licht. »Sohin«, erklärte er, »labt Pieter Peeperkorn sich mit einem Schnaps.« Und er schluckte das Korndestillat, nachdem er es kurz gekaut. »Jetzt«, sagte er, »sehe ich Sie alle mit erquickten Augen an.« Und er nahm Frau Chauchats Hand vom Tischtuch, führte sie an die Lippen und legte sie dann zurück, worauf er die seine noch einige Zeit darauf ruhen ließ.
Ein eigentümlicher, persönlich gewichtiger, wenn auch undeutlicher Mann. Die Berghof-Gesellschaft nahm regen Anteil {835} an ihm. Er habe sich kürzlich von den Kolonialgeschäften zurückgezogen, hieß es, und das Seine ins Trockene gebracht. Man sprach von seinem prächtigen Hause im Haag und seiner Villa in Scheveningen. Frau Stöhr nannte ihn einen »Geld-Magneten« (Magnat! Die Fürchterliche!) und konnte dabei auf eine Perlenreihe hinweisen, die Madame Chauchat seit ihrer Heimkehr zum Abendkleide trug, und die nach Karolinens Meinung wohl kaum als Zeugnis transkaukasischer Gattengalanterie verstanden werden durfte, sondern der »gemeinsamen Reisekasse« entstammte. Sie zwinkerte dabei, wies seitlich mit dem Kopf auf Hans Castorp und zog in parodistischer Betrübnis den Mund herunter, indem sie, unverfeinert durch Krankheit und Leiden, seine Mißlage zu rücksichtsloser Verhöhnung ausnutzte. Er bewahrte Haltung. Er verbesserte ihren Bildungsschnitzer sogar nicht ohne Witz. Sie habe sich versprochen, sagte er. Geldmagnat. Aber Magnet sei auch nicht schlecht, denn offenbar habe Peeperkorn viel Anziehendes. Auch der Lehrerin Engelhart, als sie ihn matt errötend, scheel lächelnd und ohne ihn anzusehen befragte, wie der neue Gast ihm behage, antwortete er mit gut bewahrtem Gleichmut. Mynheer Peeperkorn sei eine »verwischte Persönlichkeit«, sagte er, – eine Persönlichkeit, aber verwischt. Die Genauigkeit dieser Kennzeichnung bewies Objektivität und damit Gemütsruhe; sie warf die Lehrerin aus ihrer Position. Und was nun gar Ferdinand Wehsal und seinen verzerrten Hinweis auf die unerwarteten Umstände betraf, unter denen Frau Chauchat zurückgekehrt war, so bewies hier Hans Castorp, daß es Blicke gibt, die an präziser Eindeutigkeit um kein Haar dem artikuliertesten Worte nachstehen. »Erbärmlicher!« besagte der Blick, mit dem er den Mannheimer maß, besagte es unter Ausschluß jeder auch nur aufs leichteste fehlgehenden Auslegung, und Wehsal anerkannte denn auch diesen Blick und steckte ihn ein, ja er nickte sogar dazu, indem er seine zerstörten Zähne zeigte, {836} nahm aber doch von nun an Abstand davon, auf Spaziergängen mit Naphta, Settembrini und Ferge Hans Castorps Paletot zu tragen.
In Gottes Namen, er konnte ihn selber tragen, er trug ihn sogar lieber selbst, und nur aus Freundlichkeit hatte er ihn dem Elenden dann und wann überlassen. Das aber verkennt wohl niemand in unserer Runde, daß Hans Castorp hart betroffen war durch jene völlig unvorhergesehenen Umstände, die alle Vorbereitungen zuschanden machten, die er für das Wiedersehen mit dem Gegenstand seiner Faschingsabenteuer innerlich getroffen hatte. Besser gesagt: sie machten sie überflüssig, und darin lag das Beschämende.
Seine Vorsätze waren die zartesten, besonnensten gewesen, weit entfernt von täppischem Ungestüm. Kein Gedanke daran, daß er Clawdia etwa vom Bahnhof hatte abholen wollen, – und ein Glück nur, daß er diesen Gedanken nicht hatte aufkommen lassen! Überhaupt aber war ganz ungewiß gewesen, ob
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