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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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eine Frau, der die Krankheit so große Freiheit verlieh, die phantastischen Ereignisse einer fernen maskierten und fremdsprachigen Traumnacht auch nur werde wahrhaben wollen, oder ob sie wünschen werde, unmittelbar daran erinnert zu sein. Nein, keine Zudringlichkeit, kein plumper Anspruch! Selbst zugegeben, daß sein Verhältnis zu der schrägäugigen Kranken die Grenzen abendländischer Vernunft und Gesittung dem Wesen nach hinter sich ließ, – in der Form war vollkommenste Zivilisation und für den Augenblick sogar der Schein der Gedächtnislosigkeit zu wahren. Ein Kavaliersgruß von Tisch zu Tisch – fürs erste nichts weiter! Ein höfisches Hinzutreten bei späterer Gelegenheit, unter leichter Erkundigung nach dem Ergehen der Reisenden seit neulich … Das eigentliche Wiedersehen mochte sich zu seiner Stunde als Lohn beherrschter Ritterlichkeit daraus ergeben.
    All dieser Zartsinn, wie gesagt, erschien nun hinfällig da {837} durch, daß ihm die Freiwilligkeit und damit alle Verdienstlichkeit genommen war. Die Gegenwart Mynheer Peeperkorns schaltete die Möglichkeit einer Taktik, die
nicht
in äußerster Zurückhaltung bestanden hätte, allzu gründlich aus. Hans Castorp hatte am Abend der Ankunft von seiner Loge aus den Schlitten, auf dessen Bock neben dem Kutscher der malaiische Kammerdiener saß, ein gelbes Männchen mit einem Pelzkragen auf dem Überzieher und in steifem Hut, im Schritt die Wegschleife heraufkommen sehen, und zuseiten Clawdias im Fond hatte, Hut in der Stirn, der Fremde gesessen. Diese Nacht hatte Hans Castorp wenig geschlafen. Am Morgen hatte es keine Schwierigkeiten bereitet, den Namen des verwirrenden Mitkömmlings zu erfahren, mit der Nachricht als Dreingabe, daß beide im ersten Stockwerk nachbarliche Vorzugsräumlichkeiten bezogen hätten. Dann war das erste Frühstück gekommen, bei dem er, zeitig an seinem Platze und blaß genug, auf das Zufallen der Glastür gewartet hatte. Es war ausgeblieben. Clawdias Eintritt hatte sich lautlos vollzogen, denn hinter ihr hatte Mynheer Peeperkorn die Glastür geschlossen, – groß, breit und hochgestirnt, weiß umlodert das mächtige Haupt, war er den Spuren der Reisegefährtin gefolgt, die sich mit vertrautem Katzentritt, vorgeschobenen Kopfes, ihrem Tisch genähert hatte. Ja, sie war es, unverändert. Programmwidrig und selbstvergessen umfaßte Hans Castorp sie mit seinem übernächtigen Blick. Es war ihr rötlichblondes, nicht weiter kunstreich frisiertes, sondern in einfacher Flechte um den Kopf gelegtes Haar, es waren ihre »Steppenwolfslichter«, ihre Nackenrundung, ihre Lippen, die voller erschienen, als sie waren, vermöge jener Betonung der Wangenknochen, die eine anmutige Höhlung der Wangen selbst bewirkte … Clawdia! dachte er erschauernd, – und er faßte den Unerwarteten ins Auge, nicht ohne ein spöttisch-trotziges Kopfaufwerfen gegen die maskenhafte Großartigkeit seiner Erscheinung, nicht ohne die Auf {838} forderung an sein Herz, sich lustig zu machen über die Großmächtigkeit eines gegenwärtigen Besitzrechtes, das durch gewisse Vergangenheiten in ein recht schiefes Licht gesetzt wurde:
gewisse
Vergangenheiten in der Tat, nicht dunkel unsichere, auf dem Gebiet der dilettantischen Ölmalerei gelegen, wie sie ihn selbst wohl zu beunruhigen vermocht hatten … Auch ihre Art, vor dem Platznehmen gegen den Saal hin lächelnd Front zu machen, sich gleichsam der Gesellschaft zu präsentieren, hatte Frau Chauchat bewahrt, und Peeperkorn leistete ihr Gefolgschaft darin, indem er schräg hinter ihr stehend die kleine Zeremonie sich vollziehen ließ, um sich danach an seinem Tischende zu Clawdias Seite niederzulassen.
    Es war nichts gewesen mit dem Kavaliersgruß von Tisch zu Tisch. Clawdias Augen waren bei der »Vorstellung« über Hans Castorps Person wie über seinen ganzen Ort in fernere Gegenden des Saales hinweggeschweift; bei der folgenden Zusammenkunft im Speisesaal war es nicht anders gewesen; und je mehr Mahlzeiten vergingen, ohne daß die Blicke sich anders begegnet wären, als in einem blinden und gleichgültigen Hinstreifen von Frau Chauchats Seite, wenn sie sich während des Essens einmal umwandte, desto unpassender wurde es, den Kavaliersgruß noch anzubringen. Während der kurzen Abendgeselligkeit hielten die Reisegefährten sich in dem kleinen Salon: Auf dem Sofa saßen sie nebeneinander, im Kreise ihrer Tischgenossen, und Peeperkorn, dessen großartiges Angesicht hochgerötet gegen die Weiße seines

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